Wiener Studien - Rezension

Kommission für antike Literatur und lateinische Tradition

Rezensionen der Wiener Studien 113 (2000)


Matthias Baltes, ΔΙΑΝΟΗΜΑΤΑ: Kleine Schriften zu Platon und zum Platonismus. Stuttgart-Leipzig: Teubner 1999. XV, 417 S. (Beiträge zur Altertumskunde. 123.) ISBN 3-519-07672-1

In dem vorliegenden Sammelband sind zum ersten Mal B.s zentrale Arbeiten (insgesamt 16) zu Platon und zum Platonismus aus den Jahren 1975 – 1997 in chronologischer Reihenfolge zusammengestellt. Sie gewähren einen eindrucksvollen Einblick in das Schaffen des Autors. Profundes Wissen und die präzise, sachliche Darstellungsweise des Erarbeiteten machen die Lektüre aufschlußreich und hochinteressant. Die Themenbereiche erstrecken sich von Stellungnahmen zu Kernstellen der platonischen Lehre bis zur Beurteilung der Platonexegese, wie sie durch die Mittelplatonisten erfolgt ist. So befaßt sich B. etwa in einem der Beiträge (303 – 325) mit der von alters her oftmals aufgeworfenen Frage, ob nach Platon, Tim. 28 B 7 (γέγονεν) die Welt real entstanden sei, oder sich nicht vielmehr in einem immer fortdauernden Schöpfungsprozeß befinde. Der Autor, der sich für die zweite Variante entscheidet, begründet dies ausführlich. Wichtig scheint mir der Hinweis zu sein, daß ἀρχή im Timaioskontext nicht als "zeitlicher Beginn eines Entstehungsprozesses" verstanden werden darf, sondern vielmehr als das "Woher des Entstehens" (322) im ontologischen Sinn. Die änigmatische Ausdrucksweise Platons an der zitierten Timaiosstelle, wie sie ja auch für Kernpassagen in anderen Dialogen typisch ist, wird von B. völlig zu Recht mit einer Grundhaltung des Philosophen assoziiert, daß dieser nämlich mit seinen Schriften vielmehr Probleme aufzugreifen und Denkanstöße zu vermitteln suchte, als daß er ein vorgefertigtes, philosophisches System, das schwer nachvollziehbar ist, dogmatisch oktroyieren wollte. Erstere Vorgangsweise verlangt und fördert Eigenständigkeit im Denken. Sie ist zum fruchtbaren Boden für seine Schüler geworden und damit mitbestimmend für das Denken und die Weltauffassung des Abendlandes. Der Gedanke, daß platonische Dialoge in Ermangelung eines philosophischen Systems für den dogmatisch-philosophischen Unterricht ungeeignet waren, auf Grund ihrer Vielschichtigkeit aber zum Ausgangspunkt für verschiedene philosophische Richtungen werden konnten, indem sie dann von den Schülern Platons systematisiert und lehrbar gemacht wurden, ist Ausgangspunkt für eine weitere grundlegende Arbeit über den antiken Platonismus (223 –247). Eine tiefe Würdigung Platons enthält der (englisch geschriebene) Beitrag über die platonische Akademie (249 – 275). Das Bild, das hier entworfen wird, ist vor allem auch kulturhistorisch von großem Interesse. Den Worten: "Here were laid down the foundations of an ontology and theology, without which the whole of not only Western philosophy, but also Christianity, would be unthinkable" (261) kann man nur voll und ganz zustimmen. Der Sammelband ist mit dem Titel ΔΙΑΝΟΗΜΑΤΑ versehen: Er enthält die gedanklich verdichtete Essenz der Arbeit B.s und trägt somit diesen Titel völlig zu Recht.
Maria-Christine Leitgeb
 

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