Wiener Studien - Rezension

Kommission für antike Literatur und lateinische Tradition

Rezensionen der Wiener Studien 113 (2000)


Peter Grossardt, Die Trugreden in der Odyssee und ihre Rezeption in der antiken Literatur. Bern: Peter Lang 1998. XIII, 493 S. (Sapheneia. Beiträge zur Klassischen Philologie. 2.) ISBN 3-906759-85-7

Die sorgfältig gearbeitete, auf exzellenter Kenntnis der Texte und der relevanten Forschung basierende Dissertation aus Freiburg (Schweiz) gilt zu fast gleichen Teilen der Odyssee und ausgewählten Werken der antiken Literatur. Die Basis liefern komparatistische Betrachtungen zum Trugreden-Motiv innerhalb des weithin bezeugten Typus des Heimkehrerliedes, das den typologischen Hintergrund für die individuelle Behandlung des Motivs in der Odyssee bietet. G. erhält damit einen guten Ansatz, um die einzelnen Trugreden mit ihren motivlichen Details und in ihrem Zusammenhang zu erfassen. Aus der Fülle der guten Beobachtungen seien nur zwei Beispiele für die Fruchtbarkeit der typologischen Betrachtungsweise angeführt.
Wenn Odysseus in seiner Trugrede an Athene im ν den Rivalen, den er in Kreta getötet haben will, ᾿Ορσίλοχος benennt, so entspricht die Etymologie des Namens der Rolle der Freier: Auch diese wollen Odysseus vermittels λόχος auflauern, werden von ihm aber durch einen λόχος getötet. Wenn der 'Kreter' nach dem Mord an Orsilochos dann flieht, so weckt das Spannung in Bezug darauf, ob Odysseus selbst nach dem Freiermord wie der Kreter nach "Pylos oder Elis" fliehen wolle, so wie es Eupeithes in ω 431 vermutet. G. (59 – 62) schließt daraus, daß der von Odysseus fingierte 'Kreter' das traditionelle Verhaltensmuster des typischen Heimkehrers definiere und zitiere, was ich dahingehend variieren würde, daß das Zitat sich nicht auf den Typus der 'Heimkehrergeschichte', sondern auf den Typus der traditionellen Odysseus-Geschichte bezieht.
Eine gute Erklärung gibt G. (162f.) auf die alte Frage, warum Odysseus in seiner Trugrede an Penelope im τ die Episode bei Kalypso ausspare: Odysseus nimmt nicht etwa 'Rücksicht' auf Penelope, die von dem langen Aufenthalt ihres Mannes bei der Göttin nichts erfahren solle; er verfolgt vielmehr im Rahmen aller Trugreden eine fortschreitende Annäherung an die Wahrheit, die an dieser Stelle der Handlung noch nicht abgeschlossen ist. Kalypso bleibt somit hier ausgeklammert, weil der hier präsentierte Odysseus als dynamisch von Ort zu Ort eilender Heimkehrer dargestellt ist und somit einen Gegensatz zur Darstellung unserer Odyssee bildet, wo Odysseus nach der Heimat strebt und gegen seinen Willen von zu Hause ferngehalten wird.
Dankbar ist man für den Hinweis auf ein (bislang kaum beachtetes) serbisches Lied, Srpske narodne pjesme 2, 62, in dem das μῆνις-Motiv der Ilias mit dem Heimkehrmotiv der Odyssee zu einer kompositorischen Einheit verknüpft ist.
Wie nicht anders möglich, gibt es auch Stellen, an denen ich eine andere Auffassung vorziehe. So reduziert G. den aus mittelalterlichen und südslawischen Texten abgeleiteten 'Heimkehrer-Typus' m. E. zu stark auf eine einheitliche Gestalt, was auffällt, wenn man zusätzliches Material heranzieht. So schreibt G. (30 Anm. 104), im südslawischen Heimkehrerlied "stellt sich hier nie die Frage, ob [sc. dem als Bettler maskierten Heimkehrer] Almosen gegeben werden oder nicht". Eben diese Frage wird z. B. in SCHS 2, 28 gestellt; die Alternative 'gute oder böse Freier' ist im südslawischen Heimkehrerlied potentiell immer vorhanden, und ihre stillschweigende positive Erledigung ist immer vor dem Hintergrund der möglichen Alternative zu sehen. G. tendiert wohl zu sehr dazu, die Odyssee als erste und einmalige literarisch-komplexe Schöpfung von einem vorausliegenden einheitlich einfachen Erzähltypus abzugrenzen.
G. geht der Frage nach, warum sich der unerkannte Odysseus den diversen Gesprächspartnern auf Ithaka jeweils unterschiedlich vorstellt. Dafür hätte ein Vergleich mit analogen Situationen vor der Ankunft auf Ithaka gelohnt. Dabei hätte sich gezeigt, daß das für Odysseus scheinbar so charakteristische Trug- und Verstellungsmotiv erst das Ergebnis eines Lernprozesses ist, im Zuge dessen er gelernt hat, sein typisch heroisches Verhalten des εὔχεσθαι abzulegen. Für den Odysseus unserer Odyssee wäre es also undenkbar, im 13. Buch an Athene keine Trugrede zu richten. Grund dafür ist aber nicht der zugrundeliegende Typus, der die Trugrede vorschriebe, auch wenn sie in der Situation nicht ganz passend sein sollte (so 49); das Motiv ist vielmehr organisch aus der Handlungsmotivation der Odyssee entwickelt.
G.s Auffassung der Trugreden geht aus folgenden Zitaten hervor: "Odysseus findet damit immer stärker zu seiner Identität zurück" (141); "Da die Schuld der Freier und der untreuen Mägde schon feststeht, besteht die Funktion dieser Trugreden [sc. im ρ und σ] nicht mehr in der Prüfung der Gesprächspartner, sondern in der Schaffung eines verbalen Vorspiels für die militärische Auseinandersetzung" (142); "All dies zeigt, dass die Trugreden in der Odyssee weder unterschiedliche, nicht miteinander zusammenhängende Einzelreden darstellen noch eine einzige mit nur geringfügigen Variationen sich wiederholende Lebensgeschichte, sondern es ist eine Lebensgeschichte, die sich so oft wiederholt und verändert, bis Odysseus schliesslich sein falsches Ich ganz abgestreift hat und wieder ganz er selber geworden ist. Die Trugreden sind daher der beste denkbare Spiegel für die innere Heimkehr des Odysseus, die erst im 23. Buch zum (Beinahe-) Abschluss kommt" (207). Hier würde ich deutlicher zwischen den Erzählebenen unterscheiden: Odysseus als Figur der Handlung schlüpft mit seinen Trugreden in eine Rolle, die er zuerst vorstellt, dann immer weiter ausbaut und dabei auslotet, wie weit er in der Enthüllung seiner Identität gehen kann, um die Freier zu testen und (gerade durch die Ähnlichkeit seiner Rolle zum 'echten' Odysseus) die 'guten' Freier doch zur Umkehr zu bewegen und die wahre Einstellung Penelopes zu erfahren; die pauschale Schuld der Freier – auch in ihrer Differenzierung – wird ja erst durch ihre Reaktionen auf die Trugreden bestätigt. Die Funktion eines "verbalen Vorspiels" auf den Freiermord besteht also nur auf der Kommunikationsebene zwischen Erzähler und Rezipienten, und nicht darin, daß sich Odysseus "verbal" für den Freiermord 'aufwärmt'. Ich sehe also sehr wohl eine 'äußere' Funktion sämtlicher Trugreden für die Handlung. Doch läßt sich nicht bestreiten, daß auf der Erzählebene die Entwicklungslinie der Trugreden wesentlich dazu beiträgt, den Rezipienten eine 'innere Heimkehr des Odysseus' nachvollziehen zu lassen. Der Odysseedichter hat dem Motiv der Trugrede zweifellos eine gegenüber der Tradition neue, psychologische Funktion verliehen; doch hat er dazu wohl nicht, wie G. suggeriert, ihre alte Funktion über Bord geworfen.
Trotz des Widerspruchs im Detail steht fest, daß G. mit seinem komparatistischen Ansatz einen wichtigen Beitrag zur Odyssee-Forschung liefert. Der zweite Teil des Buches liefert Anregungen zur Rezeption des Trugreden-Motivs: Stark spekulativ zu den homerischen Hymnen und zu verlorenen Odysseus-Dramen des Aischylos und Sophokles (mit der reizvollen Idee, daß Odysseus dort vor Penelope seinen eigenen Tod gemeldet haben könnte, wie es im 'Heimkehrerlied' üblich ist; allerdings möchte ich auch für diesen Fall Abhängigkeit der Dramatiker von dem traditionellen Motiv bezweifeln); sehr suggestiv zur Odyssee als Modell für Sophokles' Elektra und zur Sinon-Szene in Vergils Aeneis.
Georg Danek
 

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