Wiener Studien - Rezension

Kommission für antike Literatur und lateinische Tradition

Rezensionen der Wiener Studien 112 (1999)


Jan N. Bremmer, Götter, Mythen und Heiligtümer im antiken Griechenland. Autorisierte Übersetzung von Kai Brodersen. Darmstadt: Primus Verlag 1996. X, 165 S. Illustr. ISBN 3-89678-018-2

B. will, wie er im Vorwort vermerkt, die Forschungslinien und -tendenzen zur griechischen Religion, die sich seit W. Burkerts im Jahr 1977 erschienenem Handbuch ,Griechische Religion' entwickelt haben, nachzeichnen und so den Forschungsstand aktualisieren; damit ist implizit auch der von Burkert vorgegebene Rahmen, die Behandlung der archaischen und klassischen Zeit, abgesteckt. B. berücksichtigt in dem vorliegenden Buch nicht nur die seit Burkert veröffentlichte Literatur, sondern auch Werke, die nach seiner eigenen englischen, sehr positiv aufgenommenen Erstausgabe (,Greek Religion', Oxford: Univ. Press 1994; s. die Rez. in: CPh 91, 1996, 281-286 [Phillips III], und CR 46, 1996, 173f. [Stafford]) erschienen sind.
In einer Art Ringkomposition umgreift B. den Hauptteil seiner Darstellung mit der Besprechung der Begriffe für ,heilig' im Rahmen des Kap. 1.1 (,Einbettung') und einiger anderer wichtiger religiöser Termini im ,Anhang', die er (entsprechend dem Untertitel ,Der Ursprung der griechischen Religion') in die Tradition stellt.
Angeregt von der Schule J.-P. Vernants geht B. von der Betrachtung des Pantheons als eines strukturierten Systems von Göttern aus, deren (begrenzte) Funktionen einander ergänzen, und versucht, den Fragen nach der Paar- und Gegensatzbildung von Göttern, nach ihrer Interaktion und ihren Hierarchien auf den Grund zu gehen. Abgelehnt wird dabei die Zweiteilung in ,Olympische Gottheiten' und ,Mächte der Erde' bzw. ,der Unterwelt'; basierend auf der engen Verklammerung zwischen griechischer Religion und griechischer Gesellschaft scheidet B. vielmehr ,Götter der Ordnung' von ,Göttern des Chaos' (Kap. 3.2), mit welchem - wie mir scheint, nicht ganz geglücktem - Ausdruck er die Götter des ,Draußen' meint. Und diese Unterscheidung ist der rote Faden, der sich auch durch alle folgenden Kapitel zieht, in denen Heiligtümer, Rituale, Mythen und (einem modernen Forschungstrend entsprechend) auch Geschlechterrollen besprochen werden; besonders im Kapitel ,Heiligtümer' ist diese Optik betont: Hatten die einen, die ,Götter der Ordnung', ihre Verankerung und damit ihre Verehrungsstätte vorwiegend im Zentrum der Polis (B. nennt vor allem Zeus, Athene und Apollon), so waren andere (etwa Poseidon oder Demeter, auch Dionysos) in einer mehr "exzentrischen" Position - sowohl in der Lage ihrer Heiligtümer als auch in den kultischen Gepflogenheiten (so etwa in der Wahl der Opfertiere). Die Einseitigkeit einer solchen Klassifizierung ist B. durchaus bewußt, er betrachtet die Götter mit Vernant eher als ,Mächte' denn als ,Personen' (so Burkert), obwohl er mit Recht betont, daß es falsch wäre, eine der beiden Ansichten auszuschließen (29f.). Folgerichtig gerät er im Verlauf des Buches gelegentlich in ein Dilemma, das er etwa mit dem Hinweis auf unterschiedliche, lokal bedingte Gewichtungen einer "ambivalenten Position" der Gottheit zu lösen sucht (s. die Bemerkungen zu Zeus, Apollon und Demeter, 34f.), - ohne jedoch näher darauf einzugehen. Hierin liegt wohl der Schwachpunkt der Arbeit: Titel und Inhaltsverzeichnis lassen einen ausgewogenen Überblick erwarten, die Darstellung hingegen ist getragen von einem einzigen - wenn auch sehr wichtigen - Aspekt. Das wirft die Frage nach dem intendierten Zielpublikum des Buches auf; für Leser, die moderne Fachliteratur, besonders Burkerts Buch, kennen, ist B.s Buch zweifellos eine sehr anregende und hochwillkommene Zusammenfassung der Forschungen der letzten 25 Jahre, mit großem Schwung geschrieben - wozu zweifellos auch die ausgezeichnete Übersetzung ins Deutsche beigetragen hat; als Einführung oder Überblick für ein breiteres Publikum (das B. mit gewollt saloppen Formulierungen wohl auch ansprechen will: vgl. etwa die Bezeichnung Poseidons als ,Macho-Gott') ist es aus den genannten Gründen eher nicht zu empfehlen. Äußerst verdienstvoll aber ist jedenfalls das Bemühen B.s, einer (auch heute noch sehr verbreiteten) ,statischen' Betrachtungsweise der griechischen Religiosität eine deutliche Absage zu erteilen; er widmet in diesem Sinne der ,Transformation' sein abschließendes Kapitel, in welchem er die Eleusinischen Mysterien, die Orphik und die Veränderungen im Übergang zum Hellenismus bespricht.
Christine Harrauer
 

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