Wiener Studien - Rezension

Kommission für antike Literatur und lateinische Tradition

Rezensionen der Wiener Studien 112 (1999)


Paul Dräger, Argo Pasimelousa. Der Argonautenmythos in der griechischen und römischen Literatur. Teil I: Theos Aitios. Stuttgart: Steiner 1993 (Palingenesia. Monographien und Texte zur Klassischen Altertumswissenschaft. 43.) X, 400 S. ISBN 3-515-05974-1

Ein beeindruckendes Buch, unzeitgemäß in der Methode, wie D. selbst hervorhebt (6), umfassend, akribisch, überzeugend (wenn auch naturgemäß nicht in allem). Es geht darum, die 'ursprüngliche' Version des Argonautenmythos, bzw. in diesem ersten Teil (Teil I: Theos Aitios) nur der Vorgeschichte der Argonautenfahrt zu rekonstruieren, also jene schon literarisch (d. h. mündlich-episch) ausgeformte Fassung zu bestimmen, die als die erste uns greifbare in den ältesten Zeugnissen (Homer, Hesiod, Mimnermos) zitiert und somit als bekannt vorausgesetzt ist; es geht dann darum zu zeigen, wie diese älteste Version in den uns überlieferten literarischen Gestaltungen (Pindar, Apollonios, Valerius Flaccus) jeweils umgeformt und einer neuen Aussageabsicht unterworfen ist. Die beiden Anliegen bedingen einander, da laut D. die 'ursprüngliche' Version des Mythos gewisse Züge, die seit (und durch) Pindar und Apollonios als kanonisch gelten, eben noch nicht aufwies, andererseits vor allem Pindar eben diese Züge als Neuerungen eingeführt hat. Doch entgeht D. der Gefahr der Zirkularität, da er für die 'ursprüngliche' Version auf ein Pherekydes-Fragment zurückgreifen kann, dieses (mit überzeugender Argumentation) mit Angaben in Apollodors Bibliotheke kombiniert und ergänzt und somit eine Version des Mythos zurückgewinnt, die in sich konsistent ist und mit einer gut 'archaischen' Motivation operiert. Deren wichtigste Wesenszüge lauten: Pelias ist rechtmäßiger Herrscher in Iolkos, Iason hat keinen Anspruch auf den Thron, sondern ist der mythische Vollstrecker von Heras Groll gegen Pelias aufgrund seines Frevels an der Göttin (Pelias hat seine Stiefmutter Sidero am Hera-Altar getötet): Iason bringt Medea nach Iolkos, die Pelias töten wird (D.s Zusatzhypothese, daß als religiöser Hintergrund dieses Mythos eine Kultrivalität zwischen der im Binnenland verehrten Hera und dem Gott des Meeres Poseidon, dessen Nachkomme Pelias ja ist, bestünde, scheint jedoch überflüssig; zumindest dürfte das Motiv in der uns interessierenden episch ausgeformten Mythenversion kaum noch Funktion gehabt haben). Pindar hat dann im Rahmen seiner konsequenten Neuinterpretation der Argonautenfahrt, die zum mythischen Aition für die von Apollon initiierte Gründung Kyrenes umstilisiert wird, Pelias zum Usurpator umfunktioniert (wobei D. allerdings offen läßt, welche Funktion die Neubewertung des Pelias für die paradigmatische Anwendung des Mythos auf die Auftragssituation bei Pindar hat; dazu erhellend T. Poiss, Momente der Einheit. Interpretationen zu Pindars Epinikion und Hölderlins Andenken, Wien 1993, 156 -169). Apollonios, der die Vorgeschichte des Mythos in Anspielungen versteckt (und D. daher wenig Ansatzpunkte liefert), greift über Pindar hinaus wieder auf den 'ursprünglichen' Mythos zurück, führt wieder Heras Feindschaft gegen Iason ein (allerdings hier nur mit dem 'blassen' Motiv des Opferfrevels), rückt in den Vordergrund aber den Zorn des Zeus gegen die Aioliden (D.s Kernthese, Zeus zürne, weil Phrixos nach kolchischer Sitte an einem Baum hängend im goldenen Vlies bestattet worden wäre, wird jedoch wenig Gegenliebe finden). Knapp und schlagend dann D.s Wertung des Mythos bei Valerius Flaccus (Pelias als Tyrann, dessen Zeit gemäß Iuppiters Weltenplan abgelaufen ist). D. liefert eine mehr als vollständige Aufarbeitung der Forschungsgeschichte zum Argonautenmythos und eine Fülle von neuen, scharfsinnigen und originellen Ideen und Beobachtungen, die der Leser sich hart erarbeiten muß, die ihm aber einen tiefen Einblick in das Wesen mythologischen Dichtens gewähren.
Georg Danek
 

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