Wiener Studien - Rezension

Kommission für antike Literatur und lateinische Tradition

Rezensionen der Wiener Studien 112 (1999)


Barockrhetorik und Jesuitenpädagogik. Niccolò Vulcano: Sagata Pallas sive pugnatrix eloquentia. Edition mit Einleitung, Übersetzung und Kommentar. Thomas Feigenbutz, Buch I De inventione; Andreas Reichensperger, Buch II De dispositione. Buch III De elocutione. Tübingen: Stauffenburg Verlag 1997. X, 399 und XII, 392 S. (Ad Fontes. Quellen europäischer Kultur. 2.) ISSN 0994-4580 ISBN 3-86057-181-8

Die vorliegenden zwei Bände - es handelt sich um für den Druck überarbeitete Dissertationen, die trotz ihrer unterschiedlichen Ponderierung hier gemeinsam behandelt werden - umfassen die Erstedition der 1984 von Michael von Albrecht in einer bis dahin unbekannten Handschrift entdeckten Rhetorik des neapolitanischen Jesuitenpaters Niccolò Vulcano (1663 -1735); dieser Fund ist ein seltener Glücksfall, sind doch weder dieses Werk noch die beiden anderen in derselben Handschrift enthaltenen Traktate (De Chria, Brevis texendae orationis Methodus; letzteres unvollständig) durch Sekundärquellen bezeugt. Nach dem Urteil der Editoren ist die Hs. kein Autograph, sondern enthält die Mitschrift eines Schülers Vulcanos oder die nach Diktat erfolgte Niederschrift durch einen Ordensbruder. Während aber einige Irrtümer im lateinischen Text tatsächlich am besten als Hörfehler zu erklären sind, weisen andere Fehlertypen, etwa falsche Auflösungen von üblicherweise gekürzten Wörtern, auf eine schriftliche Vorlage hin. Möglich wäre demnach, daß der Text dem Schreiber aus einer schriftlichen Fassung bzw. dem Autograph diktiert wurde. Dies könnte einen Hinweis darauf enthalten, daß die Sagata Pallas zur Publikation, wenn auch nur in kleinem Rahmen, bestimmt war.
Der Zugang zu dem Text wird durch eine knappe Einführung sowie durch Darstellungen der Spezifika von Vulcanos rhetorischem System im Vergleich mit antiken und barocken Theorien wesentlich erleichtert. Während F. in der Kommentierung auch auf textkritische und interpretatorische Fragen eingeht, beschränkt sich R. fast ausschließlich auf rhetorische Begriffe und Quellenanalysen; wenn diese auch eine wichtige Hilfestellung für den Leser bedeuten, kommen doch zweifelsfreie Textverbesserungen nicht gebührend zur Geltung (etwa 2, 18, 5 sed); darüber hinaus bleibt die Rechtfertigung für so manche Konjekturen fraglich, so etwa 2, 22, 2: decrepita aetas für das überlieferte decrepitas, das nach dem Ausweis bei Du Cange auch anderweitig belegt ist. Die letztgenannte Stelle scheint ein Grundproblem der Publikation zu beleuchten: ein die tatsächlichen kulturellen Gegebenheiten nicht berücksichtigender Kurzschluß zwischen Neuzeit und Antike unter Umgehung des Mittelalters. Dies gilt ebenso für Band 1, wo beispielsweise in der Wendung in Topica (1, 5, 1; p. 242) eine Synekdoche zur Bezeichnung der Topica Ciceros vermutet wird; vielmehr entspricht die 'falsche' Femininform einer im Mittelalter geläufigen, ursprünglich auf Rektionsvertauschung beruhenden Übertragung pluralischer Neutra in das Paradigma der a-Deklination (z. B. bei mathematica). Auch wären für adumbrare in der Bedeutung 'andeuten' (1, 26, 1; p. 347) zahlreiche Belege aus patristischen und mittelalterlichen Exegesen zur Verfügung gestanden. Auf derselben Linie liegt die Normalisierung der lateinischen Orthographie. Das Argument, damit "den Text auch fachfremden Leserkreisen zugänglich zu halten" (1, p. 46), kann durch einen Hinweis auf die beigegebene Übersetzung leicht entkräftet werden. Einzelne orthographische Besonderheiten auf die romanische Aussprache des Latein zurückzuführen, greift manchmal zu kurz; so ist die Schreibweise opportet (vgl. 1, p. 45) in mittelalterlichen Handschriften verschiedenster Provenienz zu beobachten, ja die meisten der angeführten Erscheinungen treten im Mittellatein so häufig auf, daß sie selbst in Frühdrucke klassischer Texte Eingang gefunden haben.
Diese Kritikpunkte sollen auf die grundsätzliche Problematik aufmerksam machen, die in einer Behandlung barocker Literatur allein aus dem Blickwinkel der klassischen Sprache liegt. Dies soll das Verdienst der Publikation nicht schmälern: Die Arbeiten von F. und R. werden für jeden, der sich mit der Rhetorik der Barockzeit beschäftigt, unentbehrlich sein.
Dorothea Weber
 

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