Wiener Studien - Rezension

Kommission für antike Literatur und lateinische Tradition

Rezensionen der Wiener Studien 112 (1999)


Jill Harries, Sidonius Apollinaris and the Fall of Rome AD 407-485. Oxford: Clarendon Press 1994. 292 S. ISBN 0-198-14472-5

Dieses interessante Buch ist aus langer Beschäftigung der Autorin, Lecturer der Universität von St. Andrews, mit den politischen Umwälzungen und den militärisch bestimmten Turbulenzen im westlichen Europa während des 5. Jh. hervorgegangen. Im Mittelpunkt steht eine der schillerndsten Gestalten dieser Zeit: der aus gallorömischer Aristokratie stammende Senator und Großgrundbesitzer Sidonius Apollinaris (431/432 bis etwa 486/487), der nach hohen politischen Funktionen in äußerst schwierigen Zeiten etwa fünfzehn Jahre als Bischof von Clermont-Ferrand (Avernum) wirkte. Entsprechend seinem bewegten, zwischen (kirchen)politischer Tätigkeit und erzwungenem otium schwankenden Leben zerfällt die Darstellung in zwei große Teile: ,Lyon and Rome' (23 -166) und ,Clermont' (169 -242). Chronologisch und thematisch geordnet wird in diesem Buch - "the first in English on its subject for sixty years" (Schutzumschlag) - die Geschichte Galliens ab dem frühen 5. Jh. beleuchtet, soweit sie irgendwie mit Sidonius zu tun hat, angefangen mit seinen bereits politisch tätigen Vorfahren. Die Quelle dafür ist weitestgehend Sidonius selbst: erhalten sind von ihm eine große Gedichtsammlung, die auch seine drei Panegyrici auf die weströmischen Kaiser Avitus, Maiorian und Anthemius enthält (gehalten 456 in Rom, 458 in Lyon und 468 in Rom), und eine in seiner Zeit als Bischof zusammengestellte Briefsammlung in neun Büchern.
Wie H. in der Einleitung mit dem bezeichnenden Titel "Veteris Reparator Eloquentiae" (1-19) betont, handelt es sich bei diesen Quellen um literarische, in klassischer Tradition verfaßte Produkte, deren Sprache nicht leicht verständlich ist; sie ist geprägt, ist hinzuzufügen, von den ,Übertreibungen' der gallischen Rhetorik, die sich schon bei einem seiner Vorbilder finden, dem von einem gallischen Rhetor ausgebildeten Stadtpräfekten Symmachus. In den knapp hundert Jahren, die zwischen ihm und seinem Vorbild liegen, hat sich jedoch die Situation wesentlich geändert: "For Sidonius, the conflict was not between Christianity and pagan classicism but between Roman culture, which he identified with the classical tradition, and barbarism" (3). Für ihn war daher, wie H. herausarbeitet, der Untergang Roms zu dem Zeitpunkt gegeben, als die römische Herrschaft in der Provence endete, das ist im Jahr 476. Aus seinem bewußten Anschluß an die literarische Tradition der Römer ergibt sich, daß wir von vielen wichtigen Ereignissen nur in Andeutungen erfahren, von manchen überhaupt nichts (wie etwa den Umständen, die zu seiner Ernennung zum Bischof führten). H. arbeitet deswegen sehr textbezogen mit vielen wörtlichen Zitaten aus Sidonius, die meistens in den Fußnoten im Originalwortlaut angegeben sind, und bemüht sich um eine behutsame Deutung der Aussagen. Zur richtigen Beurteilung der vielen aus den Briefen genommenen Stellen ist jedoch nicht unwesentlich die viel behandelte Frage ihrer Entstehungszeit. Die Sammlung gibt sich als in Raten publiziert, bis sie zuletzt neun Bücher umfaßte; im Widmungsbrief jedoch erklärt Sidonius, seine Briefe in einem Band gesammelt zu haben (omnes retractatis exemplaribus enucleatisque uno volumine includam). Da kein Brief des ersten und wahrscheinlich auch keiner des zweiten Buches nach 469 datiert werden könne, möchte H. annehmen, daß diese Bücher "do stand apart as an earlier, separate publication" und 477 unter Zufügung des Widmungsbriefes mit den Büchern drei bis sieben vereint wurden "into a single whole" (10).
Aus ihrer langen Beschäftigung mit den Briefen des Ambrosius, die sich zum größten Teil als erst in seinen letzten Lebensjahren entstanden erwiesen, hat die Rez. einen ganz anderen Ansatz vorgeschlagen: auch wenn die Briefe des ersten Buches das staatspolitische Wirken des Sidonius betreffen, müssen sie keineswegs während dieser Zeit verfaßt sein. Die überdeutliche Betonung der Publikation in Raten dürfte vielmehr einen raffinierten Schachzug darstellen: so konnte er offen seine eigenen Urteile publizieren, ohne es sich mit den neuen Herrschern des Arvernerlandes zu verscherzen. Eine Darstellung der Geschichte seiner Zeit erschien Sidonius zu gefährlich in den politisch äußerst schwierigen Zeiten, in denen sich der Römer letztlich mit dem arianischen Germanenherrscher Euricius arrangieren mußte; unter dem Deckmantel des Briefes konnte er jedoch der Nachwelt all das hinterlassen, was ihm am Herzen lag (vgl. Der Brief in der Spätantike. Überlegungen zu einem literarischen Genos am Beispiel der Briefe des Sidonius Apollinaris, ΣΦΑΙΡΟΣ. Festschrift Hans Schwabl 2, WSt. 107/ 108, 1994/1995, 541-551). Dieser Gesichtspunkt könnte zu einem besseren Verständnis
für das Wirken des letzten großen Gallo-Römers beitragen.
Michaela Zelzer
 

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