Wiener Studien - Rezension

Kommission für antike Literatur und lateinische Tradition

Rezensionen der Wiener Studien 112 (1999)


The Pythagorean 'Golden Verses'. With Introduction and Commentary by Johan C. Thom. Leiden - New York - Köln: Brill 1995. XV, 277 S. (Religions in the Graeco-Roman World. 123.) ISBN 90-04-10105-5

In einer äußerst umsichtigen und behutsamen Weise nimmt sich Th. der Χρυσᾶ ἔπη (Carmen aureum) an, einem nicht nur in der Antike, sondern bis in die Goethezeit populären, heute aber eher vernachlässigten Gedicht. Die umfangreiche Einleitung behandelt zunächst sehr Ÿbersichtlich die Forschungsgeschichte seit 1870, die Geschichte der Rezeption in der Antike, die handschriftliche †berlieferung, geht sodann auf die Titel- und Verfasserfrage ein, und legt im Kapitel 5, ,The Date of the Golden Verses', seine schon zuvor mehrfach angekündigten Argumente für eine mögliche Frühdatierung vor. Gegen die communis opinio -; die aufgrund der Tatsache, daß sowohl der Titel des Gedichts als auch wörtliche Zitate daraus erst ab dem frühen 3. Jh. n. Chr. nachweisbar sind, als Entstehungszeit das 1. oder 2. Jh. n. Chr. vertritt -; sucht Th. darzulegen, daß das Carmen nicht das Werk eines späthellenistischen Kompilators ist, der alte (schon im 4. Jh. v. Chr. existierende) Verse aus guten Hexametern mit eigenen, stilistisch schlechteren kombiniert hat: Th. sieht das Gedicht als eine insgesamt spätestens um 300 vor Chr. geschaffene Einheit, die er (gleichfalls gegen die herrschende Meinung) mit dem Aufbau des Carmen im folgenden Kapitel (,Composition and Content') vor Augen führt -; deshalb auch die, auf den ersten Blick mißliche, Anordnung vor der Präsentation des Textes. Zeugnis für die Frühdatierung sind ihm vor allem Anspielungen bei Chrysipp, die man seit Delatte (1916) für Teile des ,alten Bestandes' gehalten hat. Stimmt man dem einheitlichen, bruchlosen Gedankenbau des Carmen zu, so gewinnt Th.s Datierungsthese Gewicht, und dann ist es auch -; pace van der Horst (Mnem. 49, 1996, 352) -; einleuchtender, daß Chrysipp aus dem Carmen zitiert hat und nicht viceversa. Th.s Datierung fällt allerdings gerade in jene Zeit, als, nach dem Zeugnis des Aristoxenos v. Tarent, der Pythagoreismus völlig erloschen war; was dessen Zeugnis über seine Kenntnis der ,letzten Pythagoreer' bzw. Ciceros Preis des Nigidius als des ,ersten neuen' anlangt, so wurde der Wahrheitsgehalt schon mehrfach in Frage gestellt, zuletzt (und mit guten Argumenten) von P. Kingsley (Ancient Philosophy, Mystery and Magic: Empedocles and Pythagorean Tradition, 1995, 317ff.). Th. hat jedenfalls die Diskussion um die Literatur der Pythagoreer, die nach den diversen Zerschlagungsaktionen im 4. Jh. v. Chr. in den Untergrund gingen, erneut angeregt.
Organisch fügt Th. an Aufbau und Inhalt des Gedichts das Kapitel über Genos (,Gnomic Literature', ,The Golden Verses as a Ἱερὸς Λόγος') und Funktion (,The Psychagogic Function of the Golden Verses', ,The Setting of the Golden Verses'). Im Schlußkapitel stellt er das Carmen in den Rahmen der (weitgehend inhomogenen) pythagoreischen und der orphischen Tradition. Es wird also jede nur mögliche Frage behandelt -; und dies mit großer Sorgfalt -;, bevor Th. dem Leser den Text mit †bersetzung an die Hand gibt (Th. zieht im übrigen, anders als van der Waerden, die Verse 48 und 49a noch zum ersten Teil des Gedichts); dazu eine winzige Anmerkung: Vers 63 sollte, nach der Anrede an "Vater Zeus" (61f.), die emphatisch formulierte Hinwendung an den Menschen (ἀλλὰ σὺ θάρσει ...) nicht bloß durch "but take courage, ..." wiedergegeben werden (van der Waerden: "Du aber sei guten Mutes"). Der anschließende detaillierte Kommentar, in welchem sich Th.s ausgewogenes und gutes kritisches Urteil beweist, enthält eine Fülle von Vergleichsmaterial, auch aus dem jüdischen und christlichen Bereich, und so werden auch Leser, die nicht unmittelbar zum Pythagoreismus arbeiten, Gewinn aus dem Buch ziehen können.
Christine Harrauer
 

Home Rezensionen 1999

Rezensionen