Wiener Studien- Rezension

Kommission für antike Literatur und lateinische Tradition

Rezensionen


Marina Coray, Basel-Berlin: Friedrich Reinhardt Verlag 1993. XXXI, 457 S. (Schweizerische Beiträge zur Altertumswissenschaft. 24.) ISBN 3-7245-0784-4

Das Ziel dieser außerordentlich sorgfältig, detailreich und genau durchgeführten Arbeit, einer von Joachim Latacz angeregten Baseler Dissertation, ist es, den Einfluß der Diskussionen im Umkreis der Sophistik auf den Sprachgebrauch bei Begriffen für ,Wissen' und ,Erkennen' festzustellen. Als Spiegel dieser Zeitenwende ist das Werk des Sophokles klug gewählt, da bei dem Dramatiker, der den Neuerungen im intellektuellen Umgang keineswegs fernstand, eine mehr differenzierte Stellung zu erwarten ist als bei dem Neuem vielleicht weniger kritisch entgegentretenden Euripides; zur Festlegung eines Rahmens untersucht C. in Ansätzen auch den Sprachgebrauch des Thukydides, neben die Dichtersprache tritt so die Entwicklung von der ionischen Historie zur attischen Prosa. Ergebnis: Sophokles scheint, in allmählicher Entwicklung, die ihren Höhepunkt in den genau und kritisch bezeichneten Sprachebenen des Philoktet hat, immer deutlicher "das persönlichkeitsbedingte, naturgegebene Verhaltenswissen dem angelernten, von aussen beeinflussten gegenüberzustellen" (429). Der Umgang des Sophokles mit der Sprache gründet sich, so gesehen, mehr auf eine genaue Differenzierung zwischen - durchaus kritisch gesehenem - Altem und - durchaus kritisch gesehenem - Neuem, noch nicht aber in einer für Effekte genutzten Trennung semantischer Ebenen, die bei Euripides zum Stil des Dichters gehört.

Die Arbeit ist in zwei Teilen durchgeführt: 'Wissend sein' mit den Wörtern εἰδέναι, ἐπίστασθαι, σοφός, φρονεῖν und ἱστορεῖν und allen Ableitungen) und ,Erkennen' mit den Wörtern γιγνώσκειν, ξυνιέναι, μανθάνειν, auch hier mit Wortfamilie und Synonymbegriffen, die dann in einem dritten Teil den entsprechenden Wortfeldern bei Thukydides gegenübergestellt sind. Die einzelnen Abschnitte tragen alles Erreichbare zusammen: Lexikalisches, Bedeutungsvarianten, Übersetzungen, Statistiken (Häufigkeit, Stellung im Satz), Belegstellen (die wichtigsten ausgeschrieben). Die Verf. kennt und verarbeitet linguistische Theorien und Betrachtungsweisen, setzt sie aber nicht in den Vordergrund, so daß die Arbeit eine angenehm philologische bleibt. Einige Ungeschicklichkeiten, wie zu breite Ausführung von Bekanntem und ausufernde Angaben von Belegen, machen das Buch vielleicht umfangreicher als nötig. Freilich, es liegt in der Natur derartiger Arbeiten, daß einem riesigen Aufwand oft ein nur schon Bekanntes bestätigendes Ergebnis gegenübersteht; dieses aber ist fundiert und gleichzeitig auch eine sichere Basis für weitere Untersuchungen.

Herbert Bannert
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