Wiener Studien- Rezension

Kommission für antike Literatur und lateinische Tradition

Rezensionen


Helga Köhler, C. Sollius Apollinaris Sidonius, Briefe, Buch I: Einleitung, Text, Übersetzung, Kommentar. Heidelberg: Winter 1995. 350 S. (Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften. Reihe 2. N. F. 96.) ISBN 3-8253-0243-3

Das vorliegende Buch, die überarbeitete Fassung einer in Heidelberg unter H. Petersmann entstandenen Dissertation, ist einem von den Philologen kaum beachteten Thema gewidmet, den Briefen des Bischofs von Clermont und früheren Staatsmannes Sidonius aus der zweiten Hälfte des 5. Jh. Es bietet erstmals eine deutsche Übersetzung der elf Briefe des ersten Buches mit einem ausführlichen Kommentar; vorangestellt ist eine kurze Einleitung mit den Kapiteln ,Der Autor', ,Die Briefe', ,Die Sprache', ,Der Text' und ,Kommentar und Übersetzung' (3-34). - Mit Recht verweist die Autorin darauf, daß "die Epistolographie als Teilgebiet der Literaturwissenschaft noch unterentwickelt" ist, "ganz im Gegensatz zur enormen Bedeutung, die der Brief sowohl im Alltag als auch in der Literatur der Antike hatte" (6); zu Recht beklagt sie auch, daß P. Cugusi in seinem Buch ,Evoluzione e forme dell'epistolografia latina' (1983) die Behandlung der christlichen Briefe mit dem Verweis "la problematica cambia radicalmente" ablehnte (7). Die verschiedenen Formen des spätantiken Briefes in ihrer Abhängigkeit von der alten literarischen Tradition sind kurz dargestellt von der Rez., ,Die Briefliteratur', in NHLW 4 (1997), hg. von L. J. Engels und H. Hofmann, 321-353; zu bedenken ist vor allem, daß für den antiken Menschen ein durch die Publikation zur Literatur gewordener Brief keine Funktionsform vertrat, sondern eine literarische Form, ganz unabhängig von einer Übersendung an den angegebenen Adressaten.

Die Autorin zeigt auf, wie stark der Bischof der literarischen Tradition verpflichtet ist - er hielt sich genau an die Vorschriften der alten Brieftheorie -, und sie lehnt zu Recht die Versuche einer exakten Datierung der einzelnen Briefe mit Hinweis auf ihre Überarbeitung für die Publikation ab. (Die Rez. möchte noch weiter gehen: die Briefe des ersten Buches müssen keineswegs während seines staatspolitischen Wirkens verfaßt, sondern könnten von ihm in diese Jahre versetzt sein, um Probleme seiner politisch schwierigen Zeit darzustellen, ohne es sich mit den neuen Herrschern zu verscherzen, vgl. WSt. 108, 1995, 541ff.)

Was die nicht einfache Sprache des Sidonius betrifft, wäre der Hinweis auf die Prägung durch den berühmten gallischen Rhetorikunterricht, wie für sein Vorbild Symmachus, hilfreicher gewesen statt ihn der Epoche "Late Latin (ca. 200-600 n. Chr.)" zuzuordnen (19); die festgestellten sprachlichen und stilistischen Besonderheiten sind charakteristisch für jene Schule, der sehr gebildete gallische Bischof setzte sie vielleicht etwas übertrieben ein. - Für die Überlieferung übernahm die Autorin den Ansatz aus dem vorigen Jahrhundert, wonach "sämtliche Handschriften auf denselben Archetypus zurückgeführt werden, dessen Seiten an einer Ecke stark beschädigt waren, was vor allem den Text der Bücher I und II stark beeinträchtigt" (26); die beste Abschrift stelle der karolingische Codex L dar, der für die durch die Beschädigung entstandenen Lücken in der Abschrift freien Platz ließ, um sie nach einem unbeschädigten Text ausfüllen zu können. Deswegen folgte die Autorin soweit wie möglich diesem Codex, den sie im Mikrofilm noch einmal kollationierte; seine übertrieben ausführliche Beschreibung erweckt mit Formulierungen wie "die kräftige karolingische Minuskel westfränkischer Provenienz - ist von der Klarheit einer Druckschrift ohne jede Verspieltheit" (26) den Eindruck, daß die Autorin noch nicht viel mit (früh)karolingischen Handschriften zu tun hatte. Nach ihrem Ansatz stellen "das größte Problem bei der Herstellung eines vertretbaren Textes die Ergänzungen der - Lücken dar - in den codd. außer L": sie "scheinen", meint sie, "teils aus einer anderen Texttradition vorgenommen, teils nach Gutdünken konjiziert" zu sein (29). Betrachtet man jedoch unbefangen die Überlieferung des ersten Briefes, stellt sich die Lage ganz anders dar: Codex L, der älteste Zeuge zu den Briefen des Sidonius, steht für sich, die übrigen Handschriften erweisen sich als von einem anderen, weniger lückenhaften Exemplar abstammend, vgl. 1,1 eas - eas omnes (von Köhler aufgenommen) L, eas - omnes cett.; 1,2 silere melius puto quem in stilo epistulari nec] silere me (mit freiem Platz für 8 Buchstaben) in stilo epistulari nec L, silere me in stilo epistulari melius puto quem nec cett.; 1,3 has non recensendas cett., om. L (mit freiem Platz für 10 Buchstaben). Die Annahme von gelehrten karolingischen Korrektoren (vgl. 29) zählte zu den Lieblingsvorstellungen der Editoren des vorigen Jahrhunderts, eine Annahme, die sich inzwischen als verfehlt herausgestellt hat (wie etwa der Ansatz von F. Marx in seiner Ausgabe der Rhetorik Ad Herennium, vgl. WSt. 95, 1982, 183ff.). Schwierige Texte wie die des Sidonius hat man damals nicht hinreichend gut verstanden, um im großen Stil Ergänzungen vornehmen zu können. Mag auch der Codex L an manchen Stellen allein das Richtige bewahrt haben, wird man mehr als bisher die übrige Überlieferung in Betracht ziehen müssen; die Texterstellung wird dadurch zugegebenermaßen schwieriger, weil man nicht mehr einer Handschrift so weit wie nur irgendwie möglich folgen kann. Im zweiten Brief hat die Autorin selbst die wegen der Angabe in L, ceruix non sed neruis (mit der Lücke von 8-9 Buchstaben), gemachte Konjektur cervix non sedet nodis sed nervis verworfen und mit den übrigen Hss. cervix non sedet nervis in den Text gesetzt.

Die schwierige Sprache des Sidonius ins Deutsche zu übertragen, noch dazu zum ersten Mal, stellt eine besondere Leistung dar; man merkt, daß die Autorin wirklich gerungen hat zwischen der Vermittlung des artifiziellen Charakters dieser Briefe und der Vereinfachung der Ausdrucksweise zum Zweck der besseren Verständlichkeit. Im Kommentar (99-333) ist neben einer Einführung in die Briefsituation und den Kreis der Empfänger viel Interessantes vor allem zu Sprache und Stil zusammengetragen; daß man dazu noch manches nachtragen und manches etwas straffen könnte, versteht sich besonders bei einer Dissertation von selbst.

Michaela Zelzer

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