Wiener Studien- Rezension

Kommission für antike Literatur und lateinische Tradition

Rezensionen


Ernst A. Schmidt, Sabinum. Horaz und sein Landgut im Licenzatal. Heidelberg: Winter 1997. 198 S., 16 Abb. (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. 1997, 1.) ISBN 3-8253-0383-7

Das jüngste Buch des Tübinger Gelehrten nimmt ein Thema eines älteren Aufsatzes (Das horazische Sabinum als Dichterlandschaft, Antike und Abendland 23, 1977, 97-112) wieder auf: die sein sabinisches Landgut betreffenden Dichtungen des Horaz, ihre Beziehung zur außersprachlichen Realität und ihre (je nach literarischem Genus verschiedene) Umdeutung der Realität im Sinne der horazischen Ethik, als Symbol für Zufriedenheit, Frieden und Freiheit. Getreu dem Anspruch, einen Beitrag zum Thema 'Dichtung und Realität' liefern zu wollen (11), beginnt das Buch mit der Beschreibung des Gutes ausgehend von Dichtung (Zusammenfassungen der konkreten topographischen Indizien, die sich aus Horaz' Gedichten erschließen lassen) und (archäologisch erschlossener) Realität (Entdeckungsgeschichte, Ausgrabung und Beschreibung des ausgegrabenen Komplexes). Dazwischen steht ein Kapitel über die vor kurzem wiederentdeckten Gouachen des Malers Philipp Hackert (1780), die die Umgebung der Horazvilla darstellen. Es folgt der interpretierende Hauptteil der Arbeit, deren These in einem einleitenden Kapitel zusammenfassend dargestellt ist: während das Sabinum zu allen Zeiten für Horaz ein Symbol ist, das seine Ethik des Maßes und der Zufriedenheit repräsentiert, ist die Nuancierung des Symbolgehalts je nach Schaffensphase und Genus eine unterschiedliche. Diese These illustriert S. an ausführlichen Interpretationen von serm. 2, 6; carm. 1, 17 (mit gegenüber dem älteren Aufsatz leicht veränderter Deutung); 1, 22; 2, 18; 3, 13; 3, 18; epist. 1, 7; 1, 10; 1, 14; 1, 16. Ein dritter Abschnitt des Buches faßt unter der gemeinsamen Überschrift "Hermeneutische Reflexionen" zwei Erörterungen dazu zusammen, warum der (moderne) Horazleser an der Realität des Sabinum (bzw. der lokalen Voraussetzungen antiker Dichtung überhaupt) Interesse hat bzw. welchen Nutzen er aus ihrer Kenntnis ziehen kann. Ein solches Abschlußkapitel ist angesichts der Disparität der vorhergegangenen Abschnitte wohl erforderlich, um die Zusammengehörigkeit der verschiedenen Blickwinkel zu erweisen, und dennoch scheint diese nicht restlos überzeugend: abgesehen von der zweifellos zentralen prinzipiellen Erkenntnis, daß die Villa des Horaz real existiert hat und daß sie in seinen Gedichten topographisch realistisch beschrieben ist, sieht sich S. in seinen eigenen Interpretationen nicht öfter als irgendein anderer Interpret veranlaßt, die "Kontrollinstanz" (177) der Realität heranzuziehen, greifen topographische Details des Licenzatales kaum je in seine Literaturbetrachtung ein. Die vom Leser als angenehm empfundene Kohärenz und Abgeschlossenheit des Buches hat also eher sentimentale als logisch stringente Ursprünge, bewegt sich also in dem Bereich, den die zweite der genannten abschließenden Erörterungen behandelt: "Die hermeneutische Lust an der Lesbarkeit von Orten", das Vergnügen des Lesers von Dichtung daran, deren reale Schauplätze mit seinen Erinnerungen an das Gelesene zu beleben und zu verändern.

Um noch einmal auf die interpretierenden Kapitel zurückzugreifen: An einer einzigen Stelle erscheint es schwer, dem Interpreten oder zumindest seinem hier vorliegenden Text zu folgen. Zu c. 1, 17, 18ff. et fide Teia / dices laborantis in uno / Penelopen vitreamque Circen bemerkt S. Folgendes: "Die der Konstellation und Situation am besten entsprechende Erklärung scheint diese zu sein: Wenn den Odysseus zwei Frauen geliebt haben, Penelope und Kirke, hier aber allein Horaz und die Hetäre Tyndaris im Sabinertal vereint sein werden, so ist des männlichen Liebenden erotischer Traum, in einer Geliebten zugleich eine Penelope, keusch, treu, Ehegemahlin, und eine Kirke, eine Göttin, schöne Hexe und Verführerin, zu haben. Ausgleich und Maß in der Liebe sollen nur versehrende Elemente abwehren, nicht Erotik, Farbigkeit, Spannung aus der Liebe nehmen. Penelope soll circeisch werden, Kirke penelopeisch" (92). Es bedarf wohl keines spezifisch 'weiblichen' Blickwinkels, um diese Interpretation eines von einer Frau gesungenen Liedes über zwei liebende Frauen als männlichen erotischen Traum betreffend die Anforderungen, die er an seine Geliebte stellt, als Verzerrung zu empfinden, zumal diese Auffassung hier nicht weiter begründet wird. Wesentlich vorsichtiger und eher nachvollziehbar formuliert S. noch in der zitierten älteren Arbeit: "Da zwei Frauen im Lied die Liebenden sind, da Tyndaris es ist, die singt, liegt es näher, an ihre Liebe (sc. zu Horaz) zu denken, als anzunehmen …, Horaz habe seine Liebe der Penelopes vergleichen und gegenüber der kirkeartigen Leidenschaft des Cyrus empfehlen wollen" (Antike und Abendland 23, 1977, 104, mit Verweis auf Pucci, TAPhA 105, 1975, 259ff., und Klingner, Philologus 90, 1935, 289ff., für die gegenteilige Meinung). Natürlich liegt der Vergleich der Tyndaris mit der Lyde von
c. 3,28 nahe (so S. 92), aber angesichts des Umstands, daß Tyndaris in des Dichters musischem Refugium singend vorgestellt ist, nicht aber notwendig dem Dichter antwortend (wie S. voraussetzt: "Tyndaris wird zur Leier singen, offenbar in Antwort auf das Syrinxlied des Liebenden"), scheint es doch einseitig, das Singen der Tyndaris auf seinen Gehalt und diesen wiederum auf die Wunschvorstellungen des Liebenden zu reduzieren (wenn Tyndaris eine fiktive Idealfrau ist, warum soll dieses Ideal nicht auch musische Fähigkeiten implizieren?). Insgesamt scheint mir die Erklärung, das Lied der Tyndaris spiegle (unter umgekehrten Vorzeichen) ihre eigene Situation (zwischen Horaz und dem leidenschaftlichen Cyrus), immer noch befriedigender.

Hildegund Müller

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