Wiener Studien- Rezension

Kommission für antike Literatur und lateinische Tradition

Rezensionen


Joachim Latacz, Einführung in die griechische Tragödie, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1993. 425 S., Abb. (Uni-Taschenbücher. 1745.) ISBN 3-8252-1745-0

Dieses Buch will ein Lehrbuch sein, und es ist vorzüglich. L. gibt einen Überblick über die Voraussetzungen für die griechische Tragödie, teilt mit, was über den Dionysoskult, seine Verbreitung und Durchführung bekannt ist, über die äußeren Bedingungen der Tragödienaufführungen: Musik, Tanz, Spielstätte (Dionysostheater: Bauchronologie im Überblick; allerdings kein Wort zu der schon länger andauernden Diskussion über eine für das 5. Jh. anzunehmende rechteckige und nicht kreisrunde Form der Orchestra: s. dazu das neue Buch von E. Pöhlmannn, unten S. 272; ein Widerspruch betrifft die Bühnentüren, 27 und 124). L. schreibt gut lesbar, engagiert, manchmal mit eigenartigen Formulierungen (55 Anm. 5, 63, 99, usw.). - Das Buch ist eine Einführung, die genau das bietet, was zwischen den erklärenden Erläuterungen in Ausgaben einzelner Tragödien und Albin Leskys Tragischer Dichtung der Hellenen (Göttingen 3 1972) liegt, auf dem letzten Stand der Forschung.

Die Anfänge, Aischylos, Sophokles, Euripides (weniger entscheidende Stücke sind zusammengefaßt), ein kurzer Hinweis auf die Tragödie des 4. Jh. und des Hellenismus: der Aufbau ist vorgegeben (für das nicht Erhaltene verdankt L. sehr viel der ausgezeichneten Musa Tragica, hrsg. v. Richard Kannicht u. a., Göttingen 1991). Die Gestalt des Euripides zeichnet L. nach den Fröschen des Aristophanes - und gibt bei dieser Gelegenheit einen kurzen Ausblick auf die Komödie als Kunstform.

Das Gesamtkonzept muß man loben; im einzelnen bleibt manches zu diskutieren. Dazu einige Notizen.

Zu Aischylos` Agamemnon bleibt mir die Beurteilung Klytaimestras und ihres Verhaltens - wie übrigens seit jeher - zu sehr an der Oberfläche des Scheins ihrer Handlungen und Aussagen. Man kann über das vordergründige Motiv - "Der König in der Ferne, sein ungetreues Weib in den Armen eines Geliebten, die Herrschaft schleift, die Dienerschaft murrt und munkelt" (99) - hinauskommen. So: Was immer auch Aigisthos und Klytaimestra aneinander bindet (115!), beide haben je eigene Motive, sich an Agamemnon zu rächen. Klytaimestras Motiv kommt aus ihrer eigenen und der Geschichte des Troja-Krieges, das des Aigisth aus der Familiengeschichte: er muß, um seinen Vater zu rächen (diese Rache ist der Grund seiner Existenz), ebenso wie Klytaimestra auf den Atreus-Sohn warten. Wo sollte er dies tun, wenn nicht in dessen Königsburg ? (zu 112f.). Das Motiv ist bei Aischylos vorhanden; man entdeckt es in Klytaimestras übertriebenen, gezwungen und künstlich wirkenden Anreden an Aigisth, aber auch in der Illusionslosigkeit der Königin. - Choephoren: Der Anfang ist im cod. Mediceus nicht zerstört, sondern fehlt (120). - Sophokles` Oidipus scheitert, meine ich, nicht so sehr auf Grund seines intellektuellen Stolzes, seiner Intelligenz, "dieses einen Besitzes" (236), der Oid. Tyr. ist vielmehr das Drama vom Wert der Information: Oidipus sammelt Informationen, wägt ab, entscheidet, aber die wichtigste Information erhält er nicht, weil er nicht danach fragt, er scheitert letztlich an einem Plural (Vers 1122). Sophokles hat dies durchaus auf die Spitze getrieben: Oidipus lebt weiter, weil sein Verbrechen, soweit er es zu verantworten hat, im Inzest liegt. Iokaste hingegen, die wußte, hat die letzte, die entscheidende Information nicht weitergegeben. - Im Stammbaum der Medea (281) fehlen Alkestis und Admetos (Tochter des Pelias, Sohn des Pheres); die Ergänzung kann die Enge des mythisch-biographischen Netzes verdeutlichen. - Zu den Bakchen verhehlt L. seine Verärgerung über ,metatheatralische' Interpretationen nicht - und tut diese mit einem Eigenzitat ab (294f., abgeschwächt 299f.). Pentheus, dem König von Theben, ist in erster Linie der Schutz der Zeusreligion in seiner Polis angelegen, weniger das Verhindern eines dubiosen Kultes, den er nicht ernst nehmen kann und will. Wie sollte der König anders handeln ? Pentheus leugnet das Chthonische seiner Abstammung, das Chthonische Thebens selbst. Für die Athener und ihre Überzeugung autochthoner Abstammung muß dies vollkommen unverständlich bleiben - gerade gegen Ende des Krieges. Und der Krieg gibt noch den Hintergrund für etwas anderes, Wesentliches: Der Fehler der thebanischen Bakchen ist, daß sie das Ende des Festes nicht erkennen. Es gibt eine Zeit für Feste und es gibt eine Zeit des Alltags. Das Fest ist herausgehoben, wie auch, in anderem Sinne, der Krieg, und das Wichtigste ist, das Ende zu erkennen und anzuzeigen. Es ist dies ein konstituierendes Element des Dionysischen: Die Kanalisation des Außergewöhnlichen, das Überschreiten von Normen in Form zeitlich begrenzter Ereignisse. Dies sollte auch bei der Erklärung des kultischen Hintergrundes angemerkt werden.

Herbert Bannert
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