Österreichisches Biographisches Lexikon

Biographie des Monats

Maximilian Lambertz und der Märchenschatz Albaniens.

Am 26. August 2013 jährt sich der Todestag des Sprachwissenschaftlers, Pädagogen, Volksbildners und Übersetzers Maximilian Lambertz zum 50. Mal. Der gebürtige Wiener galt in der Nachfolge von Wissenschaftlern wie Johann Georg von Hahn, Franz von Miklosich, Gustav Meyer und des von den Nationalsozialisten ermordeten Norbert Jokl als führender Albanologe im deutschen Sprachraum.

 

Lambertz’ Forschungstätigkeit umfasste neben der Sprachwissenschaft ein breites Spektrum an Disziplinen, wie Literaturwissenschaft, Sprachdidaktik, Namenskunde, Volkskunde und Theologie. Zu seinen bedeutendsten Leistungen zählen die Erforschung der albanischen Dialekte in Albanien ebenso wie in der Diaspora sowie die Erschließung und Sammlung der albanischen Folkloreliteratur, insbesondere der Volksmärchen, die er durch seine Übersetzungen dem deutschsprachigen Publikum zugänglich machte.

Lambertz trat aber auch als Vermittler der modernen und zeitgenössischen Literatur Albaniens hervor, vor allem durch seine Übersetzung des patriotischen Heldenepos „Lahuta e Malcìs“ von Gjergj Fishta. Seine eigenwillige Persönlichkeit und sein Festhalten an seinen Überzeugungen brachten ihn jedoch immer wieder in Konflikt mit den herrschenden politischen Strömungen und Machthabern.

Lambertz’ berufliche Laufbahn

Maximilian Lambertz wurde am 27. Juli 1882 als Sohn von Gottfried Lambertz (1854–1930) in Wien geboren. Nach dem Besuch des Piaristengymnasiums studierte er ab 1900 an der Universität Wien vergleichende Sprachwissenschaft und klassische Philologie. Zu seinen Lehrern zählten Edmund Hauler, Paul Kretschmer und Leopold von Schroeder. 1905 legte er die Lehramtsprüfung für Gymnasien aus klassischer Philologie und Deutsch ab. Anschließend hielt er sich als Stipendiat der Universität Wien zu philologischen Studien in Italien und Griechenland auf.

Im griechischen Attika hörte der junge Forscher erstmals Fischer in einer ihm unbekannten Sprache sprechen, die sich auf Nachfrage als Albanisch herausstellte. Von nun an ließ ihn die Faszination der albanischen Sprache nicht mehr los, die bald in den Mittelpunkt seines wissenschaftlichen Interesses rückte. 1906 promovierte Lambertz aufgrund seiner Dissertation „Über die griechischen Sklavennamen“ zum Dr. phil. Danach war er – unterbrochen von einem mehr als zweijährigen Aufenthalt in München, wo er am Thesaurus linguae latinae mitarbeitete – als Gymnasiallehrer tätig.

Zwei Reisen führten ihn in den Jahren 1913 und 1914 erneut nach Italien, wo er in den süditalienischen Provinzen Campobasso und Foggia sowie in Sizilien die Dialekte der dort ansässigen Albanerkolonien erforschte. Bereits 1913 legte er gemeinsam mit Gjergj Pekmezi ein Lehr- und Lesebuch des Albanischen vor. Mit seinen Forschungen reihte sich Lambertz in die relativ junge Disziplin der Albanologie ein, innerhalb derer Wissenschaftler aus Österreich-Ungarn eine führende Stellung einnahmen.

 

Feldforschung im „Schkipetarenlande“

Die Okkupation weiter Teile des erst 1912 vom Osmanischen Reich unabhängig gewordenen Albanien durch Österreich-Ungarn (1916–1918) ermöglichte Maximilian Lambertz eine weitere Vertiefung seiner albanienkundlichen Forschungen. Im Mai 1916 entsandte die Balkankommission der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien in Zusammenarbeit mit dem k.k. Ministerium für Kultus und Unterricht ein Forscherteam, das in Serbien, Montenegro und Albanien kunsthistorisch-ethnographische sowie archäologisch-linguistische Studien betreiben sollte. Unterstützt wurden die Wissenschaftler vom k. u. k. Armeeoberkommando, das jedem Expeditionsteilnehmer neben Unterkunft und Verpflegung einen Soldaten als Diener und Träger beistellte.

Von der nordalbanische Stadt Shkodra (Skutari) aus bereiste Lambertz verschiedene Teile des Landes. Dabei drang er auch in die nur in beschwerlichen Fußmärschen zu erreichenden entlegenen Bergregionen vor, wo damals noch der Kanun, das traditionelle Gewohnheitsrecht, die Angelegenheiten des täglichen Lebens regelte und die Männer Waffen trugen. Lambertz zeichnete in zahlreichen Gesprächen mit den Einwohnern ihre Dialekte auf, ließ sich Lieder vorsingen und Märchen erzählen.

Im Rahmen seiner Dienstleistung in der k. u. k. Armee reiste er neuerlich nach Albanien, wo er das ganze Jahr 1917 verbrachte. Dem XIX. Korpskommando zugeteilt und wieder in Shkodra stationiert, war er als einziger Ausländer Mitarbeiter der Literarischen Kommission in Skutari, der, unterstützt vom österreichischungarischen Gouvernement, neben der Vereinheitlichung der albanischen Schriftsprache auch die Organisation des Schulwesens oblag. Als Schulinspektor hatte Lambertz die Schulen im gebirgigen Umland zu visitieren. Daneben blieb ihm noch ausreichend Zeit, private linguistische und folkloristische Studien zu betreiben. Auf Reisen, die ihn bis nach Tirana, Elbasan und Berat führten, trug er – aus gedruckten Quellen wie auch aus mündlicher Überlieferung – 250 Märchen, Schwänke, Fabeln, Legenden und Sagen zusammen.

 

„Es war, vielleicht aber war‘s auch nicht!“

1922 erschien Lambertz‘ Werk „Albanische Märchen und andere Texte zur albanischen Volkskunde“, das bis heute als Maßstab setzende Sammlung albanischer Folkloretexte gilt. Mit dem im selben Jahr erschienenen und von Axl Leskoschek illustrierten Bändchen „Zwischen Drin und Vojusa. Märchen aus Albanien“ machte der Forscher die bis dahin kaum bekannte Erzähltradition des Balkanlandes auch einem breiteren Publikum zugänglich.

Dem albanischen Volksglauben, der in heidnischer Überlieferung, Christentum und Islam wurzelt, entspringen zahlreiche mythologische Gestalten, die die Welt der albanischen Märchen bevölkern. Eine der bekanntesten Figuren ist die Kulschedra, ein weiblicher Dämon mit mehreren Köpfen, am ganzen Körper behaart, mit langem Schwanz und neun Zungen. Ihre wichtigsten Waffen sind ihre Milch und ihr Urin, mit denen sie Angreifer vergiftet oder ertränkt. Die Kulschedra haust in Quellen, Brunnen und Höhlen. Menschen, die sich ihr zu nähern wagen, werden versteinert oder gar verschlungen. Wenn die Kulschedra naht, brechen gewaltige Gewitter los. Ihre Widersacher sind die Drangues, geflügelte Drachenwesen, die unerkannt unter den Menschen leben. Sie haben ein Herz aus Gold mit einem Edelstein in der Mitte. Die Drangues liefern sich mit den Kulschedras heftige Schlachten, indem sie Felsblöcke, Bäume, ja sogar Häuser gegen sie schleudern. Nur sie vermögen die Kulschedras zu besiegen.

Die Oren wiederum sind weibliche Schutzgeister, die jedem Menschen bei seiner Geburt beigegeben werden und dessen Schicksal vorherbestimmen. Der rechtschaffene, glückliche Mensch hat eine weiße, der Nichtsnutz oder der unglückliche Mensch eine schwarze Ora. Böse Geister, Elfen, Gespenster, Teufel, Wiedergänger und Hexen vervollständigen das Figureninventar der Folkloreliteratur. Eine der zahlreichen Schlussformeln des albanischen Märchens lautet: „Soviel ich wusste, soviel hab ich erzählt, soweit ich wollte, soweit hab ich euch angelogen!“

 

Akademische Karriere verwehrt

Im November 1923 suchte Lambertz, der zu diesem Zeitpunkt bereits eine Reihe von Fachschriften auf dem Gebiet der vergleichenden Sprachwissenschaft sowie der albanischen Volksliteratur vorweisen konnte, an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien um Zulassung zum Habilitationsverfahren und Erteilung der Venia legendi für vergleichende Sprachwissenschaft der indogermanischen Sprachen an. Die Zulassung zu den weiteren Stadien des Habilitationsverfahrens wurde jedoch seitens des Gutachterkollegiums abgelehnt. Dem Werber wurden die Gründe freilich nicht bekanntgegeben. Ob die von einigen Mitgliedern des Professorenkollegiums bemängelte wissenschaftliche Leistung des Kandidaten tatsächlich ausschlaggebend für die Ablehnung waren, darf bezweifelt werden.

Lambertz‘ Schicksal war kein Einzelfall. Die Universität Wien wurde in jenen Jahren zum Schauplatz antisemitischer und antisozialistischer Ausschreitungen vorwiegend nationalsozialistisch gesinnter Studenten, die personalpolitische Diskriminierung linker und jüdischer Wissenschaftler Usus. Lambertz, seit 1910 Mitglied der sozialdemokratischen Partei, war von dieser in den Gemeinderat von Mauer entsendet worden. Möglicherweise wusste man auch von der jüdischen Herkunft seiner Mutter, jedenfalls aber von der seiner Frau, der Altphilologin Paula Wahrmann (1880–1945). Die wissenschaftliche Laufbahn des vielseitigen Gelehrten und Pädagogen fand somit ein vorläufiges Ende.

 

Berufsverbot und rassistische Diskriminierung

1924 wurde Maximilian Lambertz zum Direktor des Bundesgymnasiums Wien-Leopoldstadt bestellt. Er betätigte sich außerdem als Volksbildner und hielt als zeitweiliger Obmann einer literarischen Fachgruppe der Volkshochschule Volksheim Ottakring zahlreiche Kurse zur deutschen und internationalen Literaturgeschichte ab. In den Jahren 1929 bis 1932 war er überdies Lektor für die lateinische Sprache am Pädagogischen Institut der Stadt Wien. Im Februar 1934 folgte der nächste Schlag gegen den Wissenschaftler, Pädagogen und Sozialdemokraten: Er wurde aus seinem Amt als Schuldirektor entlassen.

1935 entschloss sich der Zweiundfünfzigjährige für ein Theologiestudium an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Wien. In seiner Dissertation „Die Berichte über die Kindheit Jesu“ weist Lambertz nach, dass nahezu sämtliche Quellen zu Geburt und Kindheit Jesus Christus‘ der Volkspoesie entstammen, wobei er auch das anonyme jüdische Volksbuch „Toledot Jeschu“ auswertete. Die Dissertation wurde zwar im September 1938 approbiert, der Verfasser aufgrund seiner jüdischen Herkunft mütterlicherseits aber nicht zur Promotion zugelassen. An der Evangelisch-theologischen Fakultät war Lambertz seit dem Wintersemester 1938 dennoch als Lektor für Lateinisch, Griechisch und Hebräisch tätig.

Nach einem erfolglosen Versuch, in den Dienst der evangelischen Landeskirche aufgenommen zu werden, kehrte er schließlich 1939 seiner Heimatstadt Wien den Rücken und übersiedelte nach München, wo er bis 1943 als ehrenamtlicher Mitarbeiter am Thesaurus linguae latinae beschäftigt war.

Neubeginn und späte Karriere

Noch während des Krieges ließ sich Maximilian Lambertz in Leipzig nieder und wirkte als Lehrer an der dortigen Fremdsprachenschule. Nach der Befreiung war er als Leiter der Helmholtz-Oberschule tätig. Anschließend folgte Lambertz, der noch 1945 der Kommunistischen Partei Deutschlands beigetreten war, einem Ruf an die Universität Leipzig, wo er im Jänner 1946 die Venia legendi für vergleichende Sprachwissenschaft erhielt. Im Oktober desselben Jahres wurde er Ordinarius für vergleichende Sprachwissenschaft, zugleich erfolgte seine Ernennung zum Dekan an der neu gegründeten Pädagogischen Fakultät, der er bis 1949 vorstand.

Lambertz war maßgeblich am Aufbau des Indogermanischen Instituts beteiligt, das er bis 1957 leitete. Seine Lehrtätigkeit umfasste die klassischen Sprachen, Neugriechisch sowie Albanisch. „Wer je bei Lambertz an einem Homer-Seminar teilgenommen hat, der wird den kleinen untersetzten Mann mit den hellen blauen Augen hinter einer randlosen Brille nicht vergessen können, wenn er voller Inbrunst Homer deklamierte und bald mit tiefem Bass, bald mit hoher Fistelstimme Hektor oder Helena weinen, beschwören oder flehen ließ! Genauso muss der blinde antike Sänger seine Zuhörer gefesselt haben“, erinnerte sich seine ehemalige Studentin Gerda Uhlisch.

 

„Die Laute des Hochlandes“ – Das albanische Heldenepos

Seit seinem ersten Aufenthalt in Albanien hatte sich Lambertz eingehend mit der zeitgenössischen albanischen Literatur befasst. In Shkodra, dem intellektuellen Zentrum Nordalbaniens, schloss er mit deren hervorragendstem Vertreter, dem Franziskanerpater, Lehrer, Sprachreformer und Politiker Gjergj Fishta (1871–1940) Freundschaft. Dieser hatte 1937 sein Heldenepos „Lahuta e Malcìs“ („Die Laute des Hochlandes“) publiziert, das in 30 Gesängen mit 16.838 Versen den Befreiungskampf des albanischen Volkes von 1858 bis 1912, dem Jahr der Befreiung von der Herrschaft der Türken und der Proklamation der Unabhängigkeit, nachzeichnet.
Fishta baute in sein Epos zahlreiche Motive aus der albanischen Folkore ein. Die Kulschedra, die Drangues, die Oren und andere mythologische Figuren nehmen neben den historischen Protagonisten am Geschehen teil. So wie die Bewohner des Hochlandes ihre Helden- und Liebeslieder, Hochzeitsgesänge, Totenklagen oder Spottlieder zur Laute sangen, sollten sie auch das moderne Epos weitertragen. Der Schlussgesang des patriotischen Werks endet mit den Worten:

„Und so kam’s: Nach soviel Jammer,
Nachdem soviel Blut vergossen,
Soviel Menschen war’n verstümmelt,
Just zum Trotz den Balkanslawen,
Baß auch zu des Sultans Kummer,
Wie’s beschlossen hatt‘ der Herrgott,
Wied’rum Herrin ihrer selbst ward
Unsre Heimat, die Shqipni!“

http://www.albanianlanguage.net/de/fishta.html

Lambertz‘ Bemühungen um die albanische Literatur wurden jedoch durch die politischen Spannungen zwischen Albanien und der Sowjetunion zunehmend erschwert, etliche Publikationsvorhaben konnte er in der DDR nicht mehr realisieren.

Lambertz starb am 26. August 1963 in Markkleeberg bei Leipzig. 1982 beschloss die Evangelisch-theologische Fakultät der Universität Wien „eine in den Grenzen unserer Fakultät bleibende Ehrung“, indem Maximilian Lambertz posthum der akademische Grad eines Magisters der Theologie verliehen wurde.

 

 

 

Werke (siehe auch Bibliography of the Albanological Publications of Maximilian Lambertz):
Lehr- und Lesebuch des Albanischen, 1913 (gemeinsam mit Georg Pekmezi); Vom goldenen Horn. Griechische Märchen aus dem Mittelalter, 1922; Zwischen Drin und Vojusa. Märchen aus Albanien, 1922; Die geflügelte Schwester und die Dunklen der Erde. Albanische Volksmärchen, 1952; Lehrgang des Albanischen: Teil I, Albanisch-deutsches Wörterbuch, 1954, Teil II, Albanische Chrestomathie, 1955, Teil III, Albanische Grammatik, 1959; Albanien erzählt. Ein Einblick in die albanische Literatur, 1956; Die Volksepik der Albaner, 1958.

Literatur: Wiener Montagblatt, 19. 2. 1934; NDB; ÖBL (online); G. Uhlisch, Maximilian Lambertz (1882–1963), in: Bedeutende Gelehrte in Leipzig. Zur 800-Jahr-Feier der Stadt Leipzig, 1965, 1, ed. M. Steinmetz, S. 261ff.; P. Goller, Ein starkes Stück. Versuchte Habilitation eines kommunistischen Juden … Universitäten im Lichte politischer und rechtlicher Willkür am Beispiel des Habilitationsverfahrens von Karl Horovitz (1892–1958) an der Wiener Universität 1923–1925, in: Jahrbuch des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes, 1998, S. 117f.; K. Gostentschnigg, Die Verflechtung von Wissenschaft und Politik am Beispiel der österreichisch-ungarischen Albanologie, in: Südost-Forschungen 58, 1999, S. 221–245; Handbuch zur albanischen Volkskultur. Mythologie, Religion, Volksglaube, Sitten, Gebräuche und kulturelle Besonderheiten, ed. R. Elsie, 2002; Historical Dictionary of Albania, ed. ders., 2010; Universitätsarchiv, Österreichische Nationalbibliothek, Handschriftensammlung, Mitteilung Stephan Ganglbauer, Österreichisches Volkshochschularchiv, alle Wien.

(Christine Kanzler)


Für Hinweise und Unterstützung Dank an Vlora Brestovci und Dr. Robert Elsie.