Institut Österreichisches Biographisches Lexikon
und biographische Dokumentation

Biographie des Monats

Von der Kleinkunst zum Kellertheater: Stella Kadmon.

Am 16. Juli 2012 jährt sich zum 110. Mal der Geburtstag der Schauspielerin, Chansonnière, Kabarettistin und Prinzipalin Stella Kadmon. Sie schrieb ein Stück Wiener Theatergeschichte, als sie 1931 die legendär gewordene Kleinkunstbühne „Der liebe Augustin“ gründete. Nach Jahren des Exils zurückgekehrt, etablierte sie mit dem „Theater der Courage“ erneut ein engagiertes und richtungweisendes Forum für zeitkritische Dramatik.

 

Stella Kadmon wurde in Wien am 16. Juli 1902 geboren. Ihr Vater, der Beamte Moritz Kadmon (1871–1944), stammte aus einer Belgrader sephardischen Familie, er war Absolvent des Wiener Polytechnikums und arbeitete als Ingenieur bei der Donauregulierungskommission. Die um sieben Jahre jüngere Mutter Malvine, geborene Nelken, wollte ursprünglich Schauspielerin werden, erlangte aber aufgrund familiärer Widerstände „nur“ ein Diplom als Konzertpianistin und Musikpädagogin. Aus Familienrücksichten hängte sie jedoch auch diesen Beruf an den Nagel. Stella, deren Eltern sich später scheiden ließen, wuchs mit ihren Brüdern Richard und Otto in einer sehr behüteten Umgebung auf. Ein ausgeprägter Familiensinn sollte sie zeit ihres Lebens auszeichnen.

Auf dem Weg zum eigenen Theater

Stella Kadmon hatte die Theaterleidenschaft ihrer Mutter geerbt. Sie absolvierte die Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien, konnte sich in kleinen Stummfilmrollen erproben und erhielt für die Saison 1922/23 ein Engagement an das Linzer Landestheater, wo sie als Lulu in Frank Wedekinds „Erdgeist“ erste Erfolge feierte. Eine Saison am Deutschen Theater in Mährisch-Ostrau sowie Soloauftritte an Kleinkunstbühnen in Deutschland und Wien folgten. Bald jedoch wurde ihr Wunsch, das „Wanderleben“ als Schauspielerin aufzugeben, vor allem aber, ein eigenes Theater zu besitzen, übermächtig. So beschloss sie, mit einigen engagementlosen Kollegen nach dem Vorbild von Werner Fincks Berliner „Katakombe“ eine Kleinkunstbühne in ihrer Vaterstadt zu gründen. Am 7. November 1931 eröffnete sie im Kellerlokal des Café Prückel (Wien 1), den „Lieben Augustin“. Da es ihr an finanziellem Rückhalt ebenso mangelte wie an Erfahrungen als Theaterleiterin, stellte dieses gewagte Unternehmen die Kadmon fast täglich vor neue Herausforderungen.

 

    

 

Die Produktionen des „Lieben Augustin“ erwuchsen anfangs aus der Zusammenarbeit von Schauspielern und Künstlern wie dem hochtalentierten Haus- und Blitzdichter Peter Hammerschlag, später abgelöst von dem aus Deutschland vertriebenen Gerhart Herrmann Mostar, den Komponisten Franz Eugen Klein und Fritz (Fred) Spielmann oder dem Zeichner Alex Szekely. Vielen jungen Talenten verhalf der „Augustin“ zu späteren, auch internationalen Karrieren, etwa Leon Askin (damals Leo Ashkenazy), der Pantomimin Cilli Wang oder der späteren Burg- und Filmschauspielerin Gusti Wolf. Auch Stella selbst wirkte in den Produktionen ihres Theaters mit, dessen Erfolg sie schließlich bewog, ab dem Sommer 1935 auf der Hohen Warte (Wien 19) Freilichtaufführungen unter dem Motto „Der liebe Augustin im Grünen“ zu veranstalten.

Stella Kadmon war zeitlebens eine entschiedene Gegnerin von Rassismus und Totalitarismus. Daher verstand sie gerade auch den „lieben Augustin“ als eine der Aktualität verpflichtete Kleinkunstbühne, mit der sie – trotz zensurbedingter Einschränkungen durch den Ständestaat – ein Zeichen gegen den in Deutschland und Österreich aufkeimenden Nationalsozialismus setzen wollte. Wenig verwunderlich also, dass für den „Augustin“ im März 1938 der Schlussvorhang fiel.

Eine Familie im „Dritten Reich“

Nach dem „Anschluss“ war die Familie Kadmon aus „rassischen“, aber auch aus politischen Gründen höchst gefährdet. Beide Brüder waren kurzzeitig im Hotel Metropol, dem Sitz der Wiener Gestapo, inhaftiert und mussten danach umgehend das Land verlassen: Ing. Richard („Riki“) Kadmon (1900-1971), Ringer beim Sportverein Hakoah, ging ins Exil nach Palästina, wo er eine Ringerschule aufmachte. Sein Bruder Otto (1907-1995), ein Jurist, hatte sich in den 1930er-Jahren für die kommunistische "Rote Hilfe" engagiert und flüchtete über die Schweiz und Frankreich in die USA. Der in Wien verbliebene Vater Moritz wurde 1942 in das KZ Theresienstadt, von dort 1944 nach Auschwitz deportiert und ermordet. Stella und Malvine Kadmon gelang unter teils lebensbedrohlichen Bedingungen mit viel Glück und mit Hilfe ihrer Belgrader Verwandten, die sie vorübergehend aufnahmen, die Flucht nach Palästina. Stella schloss zu diesem Zweck sogar eine Scheinehe mit ihrem Cousin Bobby. Über Griechenland gelangte sie im Juli 1939 nach Tel Aviv, wo sie mit Mutter und Bruder zusammentraf.

Trotz der Sprachbarriere ging sie sofort daran, auch hier eine Kleinkunstbühne zu eröffnen, die sie „Papillon“ nannte und die bei den Wiener Flüchtlingen zunächst Anklang fand. Als ihr Publikum später ausblieb, unternahm Stella Tourneen quer durch Palästina, gab One-Woman-Shows in Cafés, Konzerthallen und Kibbuzim und trat sogar im Offiziersklub der britischen Armee auf. Auch im Rahmen des Kulturprogramms der Flüchtlingsorganisation „Free Austrian Movement“ war sie aktiv. Ab September 1943 veranstaltete sie auf dem Dachgarten ihres Tel Aviver Hauses literarische und Chanson-Abende, nach Kriegsende Leseaufführungen, etwa von Franz Werfels „Jacobowsky und der Oberst“ oder Bertolt Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reiches“. Diese erfolgversprechenden Unternehmungen fanden ein jähes Ende, als nach dem Bombenattentat auf das King David Hotel in Jerusalem im Juli 1946 auch Stella Kadmon eine anonyme Drohung erhielt.

 

Rückkehr mit Hindernissen

Trotz lebenslanger Verbundenheit zu Palästina/Israel war Stella Kadmon entschlossen, bei erster Gelegenheit nach Wien zurückzukehren, „nicht weil’s da so schön war, sondern weil’s halt die Heimat war“, wie sie später erklärte. Gemeinsam mit ihrer inzwischen fast siebzigjährigen Mutter, ihrem Bruder Riki und seiner Frau befand sie sich unter den ersten Remigrationswilligen, die auf einem Displaced People Transport der UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) auf der „City of Canterbury“ nach Venedig und von dort per Bahn Ende April 1947 nach Wien gebracht wurden. Nebst allen Schwierigkeiten, die die Heimkehrer im zerbombten Nachkriegswien erwarteten, erwies sich auch der Versuch, den „Lieben Augustin“ im Café Prückel wiederzuerlangen, als langwierig. Denn obwohl Stella Kadmon bereits von Palästina aus ihre Ansprüche angemeldet hatte, war die Theaterkonzession inzwischen an den Schauspieler Fritz Eckhardt vergeben und von diesem Carl Merz überlassen worden. Nur mit Hilfe von Stadtrat Viktor Matejka gelangte Stella wieder in den Besitz der Konzession und konnte mit Beginn der Spielzeit 1947/48 ihre Bühne neu eröffnen.

 

Vom „Lieben Augustin“ zum „Theater der Courage"

Kadmons Erwartungen, an die Kleinkunsttradition der 30er-Jahre anschließen zu können, erwiesen sich als Illusion: Ihre Mitarbeiter waren ermordet oder vertrieben worden, und das Gleiche galt für einen Großteil „ihres“ Publikums. Wohl konnte sie aber dort anknüpfen, womit sie in ihrer letzten Zeit in Palästina begonnen hatte, und so brachte sie – auf Anraten des späteren Justizministers Christian Broda, eines Freundes ihres Bruders Otto – nun auch in Wien eine Szenenfolge aus Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reichs“. Mit diesem unerwarteten Erfolg war die neue Linie ihres Theaters gefunden. Dem geänderten Zeitgeist gemäß verwandelte sie den „Augustin“ in ein avantgardistisches Kellertheater, das ab Herbst 1948 unter dem programmatischen Namen „Theater der Courage“ wiederum beispielgebend für Wiens Theaterszene wurde. Der Spielplan war von Exildramatikern wie Georg Kaiser („Das Floß der Medusa“) oder Ferdinand Bruckner („Die Rassen“), österreichischen Erstaufführungen (Wolfgang Borchert: „Draußen vor der Tür“, John Steinbeck: „Von Mäusen und Menschen“, Jean-Paul Sartre: „Die ehrbare Dirne“ etc.), aber auch von jungen heimischen Autoren bestimmt. Neuerlich wurde ihre Bühne Ausgangspunkt vieler Künstlerkarrieren.

 

    

 

1960 bezog das „Theater der Courage“ eine neue Spielstätte am Franz-Josefs-Kai in Wien 1 (Seitenstettenhof), die Stella Kadmon auch nach ihrem Bühnenabschied 1976 bis zur Schließung des Hauses 1981 leitete. Ein überaus couragierter Versuch, ab 1970 ein Leitungskollektiv mit den Schauspielern und Regisseuren Dieter Berner, Werner Prinz und Wolfgang Quetes zu bilden, war schon nach zwei Jahren gescheitert. Nach der Umwandlung in eine Ges.m.b.H. 1980/81 mit der Schauspielerin, Regisseurin und nachmaligen Theaterdirektorin Emmy Werner als Gesellschafterin hatte das Theater nur noch kurze Zeit Bestand.

Stella Kadmon starb am 12. Oktober 1989 in Wien. Mehrfach hat ihre Heimatstadt sie geehrt: 1968 mit der Ehrenmedaille der Bundeshauptstadt Wien in Silber und 1982 mit dem Goldenen Verdienstzeichen des Landes Wien. 1976 erhielt sie den Titel Professor. Ihren Namen trägt seit 2003 der Stella-Kadmon-Weg im 10. Wiener Gemeindebezirk.

 

 

Literatur (Auswahl): Der Humorist, 8. 2. 1923 (mit Bild); Die Presse, 13. 10. 1989 (mit Bild); Neues Volksblatt, 3. 11. 1989 (mit Bildern); Czeike; Hdb. der Emigration 2; oeml; M. Joukhadar, „Theater der Courage“, Dissertation Wien, 1981; S. Bolbecher, Vom "Lieben Augustin" zum "Theater der Courage", in: Zwischenwelt 2, 1991, S. 99ff.; H. Mandl, Cabaret und Courage. Stella Kadmon – eine Biographie, 1993 (mit Bildern); E. Lebensaft, in: Illustrierte Neue Welt, Oktober 1994, S. 20 (m. B.); B. Peter, Gewitzt. Stella Kadmons Kabarett „Der Liebe Augustin“, 1996; R. Wagner, Heimat bist du großer Töchter, 1996, S. 193ff. (mit Bildern); B. Peter, Geschichte schreiben und Geschichtsschreibung, in: Verspielte Zeit. Österreichisches Theater der dreißiger Jahre, ed. H. Haider-Pregler – B. Reiterer, 1997, S. 247ff.; B. Peter, Stella Kadmons Courage, in: Zeit der Befreiung. Wiener Theater nach 1945, ed. H. Haider-Pregler – P. Roessler, 1998, S. 226ff.; I. Reisner, Kabarett als Werkstatt des Theaters, 2004, passim; S. Kadmon, Und da stand unser "lieber" Hausmeister in SA-Uniform (Erzählte Geschichte unter www.doew.at); biografiA (nur online; mit Bildern und Literaturhinweisen).

(Elisabeth Lebensaft – Eva Offenthaler)