1010 Der Tag 7. Jg., Nr. 2135, 11.11.1928, S. 2 Autor: Maximilian Schreier Wir jubilieren trotz alledem! Es war kein fröhlicher, heiterer Auszug, als die deutschen Abgeordneten des alten Parla- ments am 21. Oktober 1918 die Halle des Hansenschen Palastes1 verließen, um von der Ringstraße über die Teinfaltstraße in das alte Landtagsgebäude in der Herrengasse zu ziehen, wo vereinbarungsgemäß die konstitu- ierende Nationalversammlung2 des neuen Österreich stattfinden sollte. Man hätte ja auch im Sitzungssaal des Parlaments bleiben können, wo kurz vorher die Vertreter der nichtdeutschen Nationen in politischen Erklä- rungen ihren Abfall vom alten Österreich kundgaben, oder hätte in einem der vielen Säle des alten Parlaments die konstituierende Nationalversammlung abhalten können, aber man wollte nicht den Charakter eines alt- österreichischen Rumpfparlaments der Welt bieten, sondern man wollte ein neues Volkshaus aufbauen und schon durch die Ver- änderung des Ortes auch äußerlich kundgeben, daß die konstituierende Nationalversammlung der deutschen Abgeordneten nicht als bloßer Rest des alten gesetzgebenden Reichsrates zu betrachten sei, und damit verkünden, daß die ra eines neuen selbständigen Österreichs be- gonnen habe. Diesem Schritt ist manches vor- angegangen, das nunmehr der Geschichte an- gehört. Die Tschechen haben als erste schon am 9. Oktober desselben Jahres mit einer Erklärung das Parlament verlassen, daß damit jedes Band zwischen Österreich und ihnen zer- schnitten sei. Ihnen folgten die anderen Ver- treter nichtdeutscher Nationen, so daß schließ- lich nur die deutschen Abgeordneten allein im Parlament verblieben. Wohl hatten noch nicht alle das Haus verlassen, in der Säulenhalle und in den Couloirs promenierten sie freudig erregt umher, allein der Sitzungssaal bot ein chaotisches Bild des Zerfalls. Was werden die Deutschen jetzt machen, was werden sie in dem Rumpfösterreich beginnen, wie werden sie sich zu helfen wissen, das waren die Fra- gen, die ihre Mienen sprachen, das waren die Fragen, die man aus ihren Reden zu hören bekam. Eine mit Schadenfreude gemischte Neugierde konnte man aus allen Augen lesen. Wie werden sich diese besiegten Österreicher zu helfen wissen? Und was sie alle nicht erwarte- ten, geschah. Wir wußten uns zu helfen. Die harte Notwendigkeit wies den Weg. Die zu- rückgelassenen Deutschen des alten Öster- reich lehnten es ab, mit dem besiegten Öster- reich identifiziert zu werden. Verließen die sich nun Sieger nennenden Abgeordneten das Parlament, so verließen nun auch die Ver- treter des deutschen Volkes die Stätte gemein- samer Kämpfe, um an anderer historischer Stelle die Geburtsstunde des neuen Österreich zu begehen. Wir wußten uns zu helfen! Zehn Jahre sind seit diesem schicksalschweren Augenblick vorüber, und nun ist man wohl in der Lage, ein rückblickendes Urteil zu fällen, ob uns damals ein anderer, besserer Weg offen war. Man glaubte uns in Vereinsamung allein dem Schicksal auszuliefern, doch wir erklärten uns zum Erstaunen aller für selb- ständig. Nicht einen Moment waren wir in Verlegenheit, nicht einen Moment ließen wir uns von dem Gefühl der Verzweiflung unter- kriegen, denn wir bekannten uns nicht zu den alten Sünden, wir wiesen die Zumutung, zu den Besiegten in dem großen Völkerringen zu gehören, mit Entschiedenheit zurück, dagegen übernahmen wir kurz entschlossen die uns vom Schicksal zugewiesene Mission, auf den Trümmern des alten Österreich eine junge, demokratische Republik aufzubauen. Von dem Moment, da wir uns gefunden hatten, als ein selbständiges, eigenes Volk, waren wir auch nicht mehr allein, sondern ein Staat, mit dem trotz seiner Kleinheit die großen Mächte der Welt rechnen mußten. Ob wir nun, da sich der Tag zum zehnten Male jährt, da wir, auf uns selbst angewiesen, uns auch selbst zu hel- fen wußten, Anlaß zu jubilieren haben, läßt sich damit beantworten, daß wir in der Zu- versicht leben, uns auch künftighin, mag kom- men, was wolle, zu helfen wissen werden. Ist uns auch in den bewegten Oktober-Tagen die Republik wie eine reife Frucht in den Schoß gefallen, mit der wir eigentlich nichts Rechtes anzufangen wußten, so haben wir in dem ab- gelaufenen Dezennium gelernt, Republikaner zu werden. Man bedenke, wir, die Untertanen und späteren Bürger einer vielhundertjährigen Monarchie, wachten eines Morgens als Re- publikaner auf. Wir haben um diese Republik nicht gekämpft, sie ist aus den Ereignissen ent- standen, was wunder, wenn man unmittelbar die hohe Bedeutung dieses wahrhaft umstürz- lerlischen Geschehens nicht voll zu erfassen ver- mochte. Doch an jenem bedeutsamen 21. Ok- tober, da im niederösterreichischen Landtag Deutschösterreich entstand, haben, mit Aus- nahme der Sozialdemokraten, sich die anderen deutschen Parteien zur monarchischen Staats- form bekannt. Die christlichsoziale Vereinigung ließ durch ihren Vertreter, den Abgeordneten Miklas, der heute selbst als Kandidat für die Stelle des Präsidenten der Republik gilt, die Erklärung abgeben, daß die christlichsoziale Partei grundsätzlich an der monarchistischen Regierungsform festhält. Und der Verband der deutschen Abgeordneten ließ durch Stein- wender feierlich deklarieren: "Wir bleiben überzeugte Anhänger der konstitutionellen monarchischen Staatsform." Zehn Jahre haben genügt, um den monarchischen Gedan- ken aus den Köpfen der überwiegenden Majo- rität der Bevölkerung zu bannen. In zehn Jahren sind die Bürger dieses Staates zu Republikanern erzogen worden. Denn wenn auch ein kleiner Kreis noch von Zeit zu Zeit sich in monarchischen Beteuerungen ergeht, so ist das nur als ein Ausklingen einer alten, längst verbrauchten Melodie zu werten. Wir alle, die wir nicht als Republikaner geboren wurden, die wir uns in den Umsturztagen zur Republik bekannten, sind aber in den letz- ten zehn Jahren zu Republikanern erzogen worden. Ein Aktivum, das reichlich Anlaß geben darf, am zehnten Jahrestag der Re- publik zu jubilieren. Die erste und schwierigste Etappe auf dem vorgeschriebenen Weg ist zurückgelegt, aber das Ziel ist noch lange nicht erreicht. Niemand, der heute jubiliert, hält die Arbeit für vollendet, niemand ist erfüllt von Zufriedenheit, jeder weiß, daß nun, nach dem Jahrzehnt der Grün- dung der Republik, nach der Erziehung der Bürger zu Republikanern, die Epoche an- bricht, in der die Demokratie das begonnene Werk vollenden muß. Das bloße Wort "demo- kratische Republik" ohne seinen Inhalt ist Schall und Rauch. Ein Volk, das mit einem Ruck sich von dem Absolutismus privilegierter Kasten freizumachen wußte, wird sich schließ- lich auch des Absolutismus einer engherzigen Parteikoalition zu erwehren wissen. Was nützt es, wenn in der entlegensten Dorfstube, in der kleinsten Bezirksvertretung und in allen Län- dern auf Grund des Proporzes Macht und Einfluß entsprechend dem bestehenden Kräfte- verhältnis geteilt werden, wenn an der ent- scheidensten Stelle, von wo aus der Staat re- giert wird, das Prinzip von ehedem entscheidet, der Mehrheit, wenn sie nur ein Prozent Plus aufweist, alle Macht ausgeliefert wird, die Minderheit aber, wenn ihr auch nur wenige Mandate zur Parität fehlen, zur völligen Ohn- macht verurteilt ist. In den Herbsttagen 1918 wandelten die Illusionen auf den höchsten Höhen, und da kein Widerstand zu spüren war, sah man jenes Gebilde für Demokratie an, was sich später als eine trügerische Fata Mor- gana erwies. Eine Republik, die sich stolz den Namen "demokratische" beilegt, darf nicht nach dem einseitigen Willen einer Partei oder einer Parteikoalition geleitet werden, sondern muß von oben bis unten durchsetzt sein von dem friedlichen Willen der Gesamtheit. Aber auch dieser Traum geht seiner Verwirklichung ent- gegen, und wir sind heute, am zehnten Jahrestag der Gründung unseres Staats- wesens, dem Tag nicht fern, da auch der Ge- danke der Demokratie siegreich die geistige Front der Gegner durchbrechen und das letzte Hindernis zur endgültigen Schaffung der de- mokratischen Republik Deutschösterreich fallen wird. Der unerschütterliche Glaube daran, daß es so kommen werde, läßt heute unsere Herzen höher schlagen, und darum jubilie- ren wir trotz alledem und alledem! 1 Wiener Parlamentsgebäude (erbaut nach Plänen des Architekten Theophil Eduard Freiherr von Hansen) 2 gemeint ist die Provisorische Nationalversammlung |