Der Zeitungsmarkt in der Ersten Republik 1918-1934

"Wien ohne Zeitung. Das heißt: Wien ohne Wien." Mit diesen Worten beginnt Anton Kuh seinen Bericht im Prager Tagblatt vom 20. Januar 1918 über die Auswirkungen eines Druckerstreiks. Und er setzt fort: "Denn die Zeitung ist Wien, Wien eine Zeitung. [...] Die Letter ist die Welt."

Pointierter könnte man die Bedeutung der Tageszeitung im Mediensystem vor der Verbreitung audiovisueller Medien nicht beschreiben: Während der Ersten Republik erschienen in Wien täglich durchschnittlich 25-30 (!) Tageszeitungen, einige sogar mehrmals täglich. In den Landeshauptstädten gab es jeweils 3-5 regionale Tageszeitungen am Kiosk zu kaufen. Ähnlich der heutigen Situation am Fernsehsektor, wo über Satellit und Kabel ein Vielzahl von Kanälen angeboten wird, stand dem Leser in der Ersten Republik ein breites Spektrum an Tageszeitungen zur Verfügung - im Bereich der politischen Kommunikation stellten sie das zentrale Massenmedium dar. Die Gesamtauflage der österreichischen Tagespresse reichte an die 2 Millionen heran. Erst die gewaltsamen Eingriffe der beiden Diktaturen des "Ständestaats" und des Nationalsozialismus, verbunden mit zahlreichen Erscheinungsverboten und der Verfolgung missliebiger Journalisten, veränderten diese Strukturen nachhaltig.

Zweifellos ist die politische Kultur der Ersten Republik von einer zunehmenden gesellschaftlichen Fragmentierung geprägt. Inwieweit die in den Massenmedien vermittelte Realität - bzw. die vermittelten Realitäten - zu dieser Fragmentierung beigetragen haben bzw. ob und welche integrativ wirkenden Momente vorhanden waren, ist eine der zentralen Forschungsfragen im Hinblick auf das Mediensystem der Ersten Republik, deren Beantwortung einer vergleichenden Perspektive bedarf (die in den Forschungen der Kommission durch den für diesen Zeitraum nahe liegenden Vergleich mit der Weimarer Republik eingebracht ist). Dabei ist von besonderer Bedeutung, dass sich schon um die Jahrhundertwende, begünstigt durch wirtschaftliche, soziodemographische, pressepolitische und technische Entwicklungen, der Typ einer populären, nicht parteipolitisch gebundenen Massenzeitung herausgebildet und erfolgreich am Markt positioniert hat. Unter den demokratischen Bedingungen der 1918 ausgerufenen republikanischen Staatsform wurde dieser Prozess insofern verstärkt, als von staatlicher Seite aus geringerer Druck auf die Zeitungen ausgeübt wurde, sodass sich ein freier Pressemarkt stärker entfalten konnte. So zeigt ein Vergleich der Auflagen der Parteizeitungen mit der Gesamtauflage der Wiener Tagespresse, dass die Parteipresse in der ersten Hälfte der Ersten Republik - trotz Bemühungen von christlichsozialer und sozialdemokratischer Seite, durch Gründung zusätzlicher Mittags- und Abendblätter am Zeitungsmarkt besser Fuß zu fassen - ihren anfänglichen Marktanteil von 20% nicht halten konnte. Erst in den späten 20er Jahren gelang es, ihn wieder auszubauen, da die beiden großen Parteien Zeitungen herausbrachten, die sich am journalistischen Stil der auflagenstarken Boulevardblätter im Kleinformat orientierten. Freilich folgen auch marktorientierte Medien bestimmten "redaktionellen Linien", doch stehen diese in stärkerer Wechselwirkung mit Lesern und Werbekunden.

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